Im Reich der Löwin
die Braut durch die engen Gassen der Altstadt, bis der Zug schließlich vor den geschmückten Toren der Festung des Grafen haltmachte. Wie um der Dunkelheit in ihrer Seele zu trotzen, strahlte der Himmel über der Hauptstadt der Touraine in atemberaubendem Azurblau, und die Frühlingsluft war erfüllt vom Duft der Kirsch- und Apfelblüten sowie dem betörenden Aroma frisch gebackenen Brotes, das aus dem Küchengebäude in den Hof der geräumigen Burganlage strömte. Als die Männer sie über die breite Zugbrücke trugen, lugte Jeanne verzweifelt durch das kleine Fensterloch an der Rückseite der Sänfte, um einen letzten Blick auf das bunte Treiben der Städter zu erhaschen. Die hoch über ihr aufragenden Festungsmauern wirkten so bedrohlich wie die eines schwer bewachten Gefängnisses. Und obschon sie fürchtete, die Aufmerksamkeit ihres Gemahls verfrüht auf sich zu lenken, schob sie die schützenden Gardinen ein wenig zur Seite, um den sich langsam nach oben windenden Anstieg zu verfolgen. Das Kopfsteinpflaster unter den Hufen der Pferde war so verlegt, dass die Tiere selbst bei Nässe nicht ausgleiten würden, und die sorgsam geweißten Innenmauern warfen blendend die warme Mittagssonne zurück. Jeanne blinzelte, doch bevor sich ihre Augen an die gleißende Helligkeit gewöhnen konnten, verlangsamte sich der Zug und kam schließlich ganz zum Stehen. Hastig zog sie sich ins Innere der Sänfte zurück, schlang die kalten Finger ineinander und harrte mit schwerem Herzen der Dinge, die folgen würden. »Komm, Liebste.« Wie aus dem Nichts tauchte der große Kopf ihres Bräutigams zwischen den schützenden Falten des Vorhangs auf, hinter denen sich die junge Frau am liebsten bis zum Jüngsten Gericht verborgen hätte, und konfrontierte sie mit einem freudigen Lächeln. Widerstrebend nahm sie die ihr gebotene Hand an, setzte die Füße auf den Lehmboden des Innenhofes und schritt neben Arnauld auf das dreistöckige Wohngebäude der Festung zu.
Sie hatten gerade die wenigen Stufen zum Eingang erklommen, als ein wahres Heer an Bediensteten auf sie zutrat, um die Gäste in Empfang zu nehmen und dem Herrn der Burg ihre guten Wünsche auszusprechen. Scheinbar unzählige Mägde in einfacher, weißer Tracht reichten Erfrischungen in goldverzierten Pokalen, während Pagen und Laufburschen diejenigen zu ihren Unterkünften begleiteten, welche die Nacht im Palas zubringen würden. Irgendwie hatte sich eine Meute Hunde in die Halle verirrt, die nun ein ohrenbetäubendes Gebell anstimmte. »Schaft sie raus!«, befahl Arnauld seinem Steward . »Die Jagd muss noch warten!« Während der überfordert wirkende Mann den Befehl seines Herrn auszuführen versuchte, wanderte die Hand des Grafen besitzergreifend zu dem unter mehreren Schichten Stoff verborgenen Gesäß seiner Gemahlin. Diese tat – einen empörten Aufschrei unterdrückend – einen Schritt zur Seite und zog unwillig die Brauen zusammen. »Ich würde mich gerne noch ein wenig ausruhen, bevor das Bankett beginnt«, bat Jeanne gezwungen ruhig – mit einem Seitenblick auf ihre Mutter, die soeben an der Seite ihres Vaters die Halle betreten hatte. »Würdet Ihr mir beim Umziehen helfen, Mutter?« Das Stirnrunzeln Arnaulds ignorierend, nickte die Gräfin de Maine, gab den beiden im Hintergrund wartenden Zofen ein Zeichen und entfernte sich mit ihrer Tochter in Richtung der Privatgemächer im oberen Stock. »Kommt, Guy«, forderte der seiner Gemahlin beraubte Arnauld Jeannes Vater auf, nachdem die entzückende Rückseite der Braut hinter einem der starken Pfeiler verschwunden war. »Solange die Damen sich präsentierbar machen, können wir einen Krug meines besten Gewürzweines teilen.«
Als die Sonne schon längst hinter den Hügeln der Touraine versunken war, herrschte in der Halle der Festung immer noch ausgelassenes, von Alkohol und gutem Essen angeheiztes Treiben. »Ich habe furchtbares Kopfweh, Arnauld.« Mit einem schmerzverzerrten Ausdruck auf den bleichen Zügen fuhr Jeannes Hand an die durch eine kunstvolle Hochsteckfrisur betonte Stirn. Sie hätte besser nicht so viel von dem schweren spanischen Rotwein trinken sollen! In den letzten zwanzig Minuten hatte sich ein pochender Schmerz von ihrem Hinterkopf über den Scheitel bis in ihre Schläfen ausgebreitet. Der penetrant süße Geruch des Dessertlikörs stach ihr in die Nase, und wenn sie noch länger in dem riesigen, stickigen Saal ausharren musste, würde ihr übel werden. »Aber sicher, meine Liebe«, lallte der
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