Im Reich der Löwin
den Beinlingen ab und murmelte heiser: »Aber ich komme so schnell wie möglich wieder zurück.« Nur mühsam unterdrückte Jeanne, die sich zu einem Nicken zwang, ein Seufzen. Bitte nicht!, flehte sie innerlich. Wie glücklich war sie gewesen, als am Morgen nach der missglückten Hochzeitsnacht ein Bote erschienen war, der ihren Gemahl nach Paris beordert hatte, wo Philipp von Frankreich Kriegsrat hielt. Sobald die ersten Sonnenstrahlen den Weg in das Schlafgemach der frisch Vermählten gefunden hatten, war der Graf de Touraine verkatert und übellaunig aufgewacht und hatte Jeanne, die bereits seit mehreren Stunden wach war, einen finsteren Blick zugeworfen. Dann hatte er die am Vorabend abgelegten Kleider aufgelesen und sich, ohne ein Wort über die Nacht zu verlieren, auf den Weg in die Halle gemacht. Ob er überhaupt wusste, dass nichts geschehen war?, fragte sich die junge Frau zum wiederholten Male. Vermutlich nicht. Was allerdings nichts an der Tatsache änderte, dass das Spiel von vorne beginnen würde, sobald er aus dem in der Normandie gelegenen Verneuil zurückkehrte. Sie musste etwas unternehmen! Mit einem süßen Lächeln in Arnaulds Richtung verbarg sie die rebellischen Gedanken und den Plan, der in ihrem Kopf Gestalt annahm, zupfte eine Feder von seiner Schulter und folgte ihm die breite Treppe hinab ins Erdgeschoss, wo bereits mehrere Dutzend seiner Ritter auf ihn warteten. Wie es einer gehorsamen Gemahlin ziemte, verfolgte sie seine Bewegungen mit geheucheltem Interesse und schlug züchtig die Augen nieder, als sie den Blick eines dunkelhaarigen Adeligen auffing, der sie mit kaum verhohlener Begierde anstarrte. »Bis bald.« Wulstig drückten sich seine Lippen auf die ihren, und während die anwesenden Männer anzüglich feixten, unterdrückte Jeanne nur mit Mühe ein Schaudern.
Kaum waren die Soldaten aufgesessen und den steilen Weg zur inneren Zugbrücke hinabgetrabt, wandte sie sich mit einem misstrauischen Blick in Richtung der Bediensteten um, hastete in den ersten Stock hinauf und begann – als der schwere Türriegel eingerastet war – mit hämmerndem Herzen Arnaulds Kleidertruhen zu durchstöbern. Zwischen schweren, golddurchwirkten Umhängen ruhte eine Vielzahl einfacher Untergewänder, leinener Brouches und schneeweißer Cotten , deren Schnitte und Ausmaße allerdings dafür sorgten, dass die junge Frau sie enttäuscht wieder zurück an ihren Platz fallen ließ. Immer tiefer grub sie, warf einen Deckel nach dem anderen zu, nur um kurz darauf zum Ausgangspunkt ihrer Suche zurückzukehren und erneut die rostigen Eisenbeschläge zu öffnen. Als sie bereits die Hoffnung aufgeben wollte, jemals etwas Passendes zu finden, stieß sie schließlich am Boden eines alten Eichenkastens auf ein zerknittertes Bündel, das sie atemlos innehalten ließ. Mit zitternden Fingern zog sie eine grobmaschige, abgetragene Cotte und einen alten Kapuzenumhang hervor, an dem noch der Schmutz einer langen Reise haftete, trat vor den mannshohen Silberspiegel und hielt sich die Gewänder an. Während sich ihr Herzschlag immer mehr beschleunigte, schlüpfte sie in fliegender Hast aus ihrem Bliaud , verstaute das geflochtene Haar unter einer dunkelbraunen Coiffe und warf das Gefundene über.
Nachdem ein kleines Messer und ein ledernes Beutelchen in den Tiefen des Gewandes verschwunden waren, schob sie mit angehaltenem Atem den Bolzen zurück, drückte die quietschende Türklinke und lugte vorsichtig den verwaisten Korridor entlang. Einige Augenblicke lang versicherte sie sich, dass die Luft rein war, bevor sie die dickbohlige Tür hinter sich ins Schloss zog. Dann raffte sie den etwas zu langen Rockteil der Cotte und schlich auf Zehenspitzen die breite Treppe hinab. Unten angekommen duckte sie sich hinter einen der mächtigen Balken, die das Deckengewölbe stützten, um der Aufmerksamkeit einer Schar Mägde zu entgehen, die heiter schwatzend eine Ecke umrundeten und in Richtung Wirtschaftsgebäude davonschlenderten. Verdammt!, schimpfte Jeanne innerlich. Mit dem letzten rundlichen Gesäß, das in dem flachen Küchenbau verschwand, hatte sich ihre Hoffnung, etwas altes Brot und einen Schlauch Cidre stehlen zu können, in Luft aufgelöst. Dann würde sie eben die erste Zeit hungern müssen! Vorsichtig huschte sie im Schutz der schattigen Mauern über den schmutzigen Hof und zwängte sich durch eine winzige Hintertür, die sie zu den in der inneren Vorburg gelegenen Stallungen führte. Dort hielt sie erneut inne, um in
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