Im Reich der Löwin
schlug, hatte er mit wutverzerrter Miene gedroht, dann würde er ihn das Fürchten lehren. »Ich kann es kaum erwarten, in die erste Schlacht zu ziehen«, bemerkte Roland mit leuchtenden Augen, woraufhin Henry beschämt den Kopf wandte, um sein Unbehagen vor dem Älteren zu verbergen. Wie sehr er es bereute, das Angebot seines Halbbruders, Geoffrey of York, abgelehnt zu haben. Wie viel wohler er sich in der Abgeschiedenheit eines Klosters fühlen würde! Weshalb nur hatte er sich von Rolands Begeisterung anstecken lassen?, fragte er sich zum wiederholten Male.
»Warum versuchst du nicht, diesen Augenblick in einem Gedicht festzuhalten?«, erklang plötzlich die Stimme des Barden Blondel hinter den beiden Jungen. Erschrocken fuhr Henry herum, nicht sicher, wie es sein Bruder auffassen würde, dass er sich in den letzten Wochen mit dem Sänger angefreundet hatte. Die schlanke Gestalt des Dichters steckte an diesem Tag in einer kurzen, topasfarbenen Cotte , über der er ein elegant geschnittenes Surkot trug. Wie immer schimmerte das braune Haar unter der kappenartigen Kopfbedeckung seidig und glänzend, während in den intelligenten dunklen Augen ein Ausdruck lag, den Henry nicht zu deuten vermochte. Viele der Männer im Tross der Engländer waren hin und her gerissen zwischen Verachtung für den Bettgefährten ihres Königs und Bewunderung für den Mut, den dieser bewiesen hatte, als er den gefangenen Löwenherz in Deutschland aufgespürt hatte. In dem Streit, den Henry mit dem älteren Knappen ausgefochten hatte, war es um eben dieses Thema gegangen. Und da der Junge den Barden verteidigt hatte, haftete ihm nun in den Augen vieler Burschen ein gewisser Makel an. »Vielleicht«, flüsterte er und sah beschämt zu Boden, um dem missfälligen Blick seines Bruders auszuweichen. Roland kam allzu oft in den Genuss von Blondels Gegenwart, wenn dieser Richard Löwenherz beglückte. Er verachtete den Barden deshalb. Zwar, so hatte er seinem Bruder angewidert berichtet, schickte Löwenherz ihn zumeist fort, wenn er seinen Liebhaber empfing. Doch ließ es sich seit dem Aufbruch von Winchester nicht immer vermeiden, dass der Knabe in seinem bescheidenen Vorzelt den Lauten der Leidenschaft lauschen musste.
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Einige Meter von den Knaben entfernt, ließen Harold of Leicester und Robin of Loxley den Blick die Hafenbefestigungen entlanggleiten. Die großen, hellgrauen Steinquader, deren moosbewachsene Flanken vor Nässe glänzten, schienen unter der Menge der Schaulustigen nachgeben zu wollen. Aber als die ersten Bewaffneten von Bord der Schiffe sprangen, um die Anlegetaue festzuzurren, wichen die Einwohner des kleinen Städtchens vor den blanken Schwertern und Lanzen zurück. »Was meinst du«, fragte Robin. »Ist an dem Gerücht, dass Lackland Frieden schließen will, etwas dran oder nicht?« Die wilden braunen Locken des Ritters fielen tief in die Stirn, und nachdem er sie mit einer geistesabwesenden Geste zurückgestrichen hatte, stülpte er den normannischen Helm mit dem breiten Nasenschutz über. »Ich weiß nicht«, gab Harold of Leicester zurück und tat es dem Freund gleich. »Ich frage mich vielmehr, ob es stimmt, dass sich Guillaume bei ihm aufhält.« Ein grimmiger Ausdruck trat auf sein gut aussehendes, von einem blonden Kinnbart akzentuiertes Gesicht. »Wenn ich diesen Mistkerl erwische, dann kann er etwas erleben!«
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Drei Tage später wurde Loxleys Frage beantwortet. Der Audienzsaal des königlichen Palastes in der reichen Stadt Rouen war bis zum Bersten gefüllt mit Rittern, Baronen, Herzögen, Knappen und Pagen. Außer Aliénor von Aquitanien und den beiden Nonnen, die sie begleiteten, waren keine Damen zugegen – was der Versammlung eine unterschwellige Aggressivität verlieh, welche die stickige Luft mit einem Knistern zu erfüllen schien. Aufgrund der strategischen Nähe zu den von Philipp von Frankreich eroberten – im Osten der Normandie gelegenen – Gebieten hatte Richard Löwenherz beschlossen, in dem stark befestigten Bollwerk der Stadt eine Art Basis zu errichten, von der aus er in die umliegenden Landstriche vorstoßen konnte. An diesem Morgen trug der von der Küste ins Land fächelnde Wind den salzigen Duft der See in die Stadt, wo er sich mit den unterschiedlichsten Gerüchen vermischte: dem durchdringenden, stechenden Gestank aus dem Gerberviertel, dem betörenden Aroma frisch gebackener Brotlaibe, dem Duft der Speisen, die über den Feuerstellen der Einwohner vor sich hin
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