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Im Reich der Löwin

Im Reich der Löwin

Titel: Im Reich der Löwin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Stolzenburg
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köchelten und einer leisen Note von Blut aus dem ans andere Ende der Stadt verbannten Schlachterviertel.
     
    ****
     
    Während William Marshal, der Earl of Pembroke, all dies unbewusst registrierte, war seine gesamte Aufmerksamkeit auf die bizarre Szene am Kopfende des riesigen Thronsaales gerichtet. Dort – auf einem dünnen Band aus rotem Tuch – kniete ein in armseliges Sackleinen gehüllter John Lackland. Die kurzen, rotblonden Locken des Prinzen betonten die Blässe seines rundlichen Gesichtes, in dem Stolz, Furcht und Zorn über die von seiner Mutter erzwungene Demütigung Widerstreit hielten. Direkt hinter dem hünenhaft über ihm aufragenden Richard Löwenherz hielt sich der von William Marshal verabscheute Mercadier unauffällig im Schatten der mächtigen, achteckigen Säulen. Und während sich der englische König niederbeugte, um seinem Bruder auf die Beine zu helfen, huschte ein Ausdruck über die dunklen Züge des Normannen, der William einen Schauer über den Rücken jagte. Vermutlich malte er sich die Grausamkeiten aus, die er den Gefolgsleuten Johns antun konnte, dachte der alte Ritter verächtlich, als er sich zum wiederholten Male fragte, warum der normannische Schlächter bei Löwenherz ein so hohes Ansehen genoss.
    »Habt keine Angst, John«, dröhnte Richards tiefe Stimme, während er seinen Bruder mit einer rippenbrechenden Umarmung begrüßte. »Ihr seid ein Kind.« Diese Beleidigung wischte den letzten Rest Farbe aus der starren Miene des siebenundzwanzigjährigen Lackland, und wäre er nicht in dem schraubstockartigen Griff seines Bruders gefangen gewesen, hätte er einen empörten Schritt zurück gemacht. »Ihr seid in schlechte Gesellschaft geraten«, fuhr Löwenherz mit sichtlichem Genuss fort. »Und es werden jene sein, die Euch irregeführt haben, die bestraft werden.« Der Blick seiner grauen Augen wanderte bedeutungsvoll zu den hinter Prinz John Knienden, unter denen sich auch Guillaume of Huntingdon befand. Sein Bruder, Harold of Leicester, dessen Tapferkeit und Treue William Marshal bereits auf dem Zug ins Heilige Land beeindruckt hatten, zuckte bei diesen Worten mit keiner Wimper. Stattdessen fixierte der kühle Blick des jungen Mannes eine Stelle kurz über der linken Schulter des Königs, während die starken Kiefermuskeln unter der straff gespannten Haut seiner Wangen arbeiteten. Es ist ein Jammer, dachte William bitter. Warum hatte sein eigener Sohn nicht mehr Ähnlichkeit mit dem jungen Earl? Schließlich war Harold damals, als er in den Diensten des ehemaligen Earls of Essex nach Palästina aufgebrochen war, genauso alt gewesen wie Humphrey heute! Doch im Vergleich zu dem offenherzigen, tapferen Harold of Leicester war sein Sohn nichts weiter als ein negatives Schattenbild. Wie viel Mühe hatte es ihn gekostet, Löwenherz davon zu überzeugen, Humphrey als Knappen anzunehmen. Er seufzte leise. Als Vater war er gescheitert, denn trotz aller Bemühungen hatte er es nicht verhindern können, dass sein Sohn ebenso überheblich und hinterhältig geworden war wie seine Mutter. Wie sehr er diese Affäre manchmal bereute – besonders seitdem er mit Isabel de Clare verheiratet war, die kaum acht Jahre älter war als sein missratener Sprössling! Mit einem ungeduldigen Blinzeln verscheuchte er die unangenehmen Gedanken und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Schauspiel vor dem Thron.
     
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    Eine Stunde später hatte sich der Audienzsaal bis auf eine Handvoll Bediensteter geleert, doch das Drama, das dort seinen Anfang genommen hatte, war noch längst nicht beendet. »Harold, bitte!« Guillaume of Huntingdons Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Noch immer stand er regungslos im Raum – die schwer bewaffneten königlichen Wachen im Rücken – während sein Bruder aufgebracht in dem bescheiden, aber geschmackvoll eingerichteten Gemach im ersten Stock des Palastes auf und ab tigerte. Robin of Loxley, der wie ein Schatten an Harolds Seite klebte, bedachte den zitternden Sechzehnjährigen mit einem finsteren Blick. Wie erbärmlich dieser Verräter aussah! Angewidert ließ er den Blick über dessen weiches Doppelkinn wandern, das nervös auf und ab zuckte. Dann wandte er sich ab, packte seinen Freund, den Earl of Leicester, mit einem energischen Griff am Arm und zwang ihn dazu, ihn anzusehen. »Harold«, fragte er eindringlich, »warum, bei allen Heiligen, hast du den König darum gebeten, die Bestrafung dieses Wurms in die eigenen Hände zu nehmen, wenn du dich

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