Im Ruecken steckt das Messer - Geschichten aus der Gerichtsmedizin
Patienten. Eine Medizinergruppe aus Chicago untersuchte die Treffsicherheit ärztlicher Prognosen zum Lebensende. 4 Die meisten Voraussagen waren zu optimistisch (63%), eine Minderheit war zu pessimistisch (17%).
Zwanzig Prozent der Lebenszeit-Prognosen erwiesen sich als korrekt. Die Irrtumswahrscheinlichkeit war umso größer, je besser der Arzt den Patienten kannte. Das darf nicht verwundern, denn gerade persönliche Nähe verstellt in der Medizin den Blick auf die Wirklichkeit. Eines soll man jedoch aus den Fehlern der Prognoseabschätzung lernen: Die Zeit für den Patienten, letzte Dinge zu regeln, ist knapper als vorhergesagt, der Zusammenbruch kann früher kommen. Dies überschattet auch alle Bemühungen der Sterbebegleitung, sei es privat, sei es im Hospiz. Andererseits tritt sehr oft ein, dass Totgesagte länger leben.
Auch eine Art von Qualitätskontrolle
England geht eigentümliche Wege, um unfähige Ärzte zu überführen. Es wurde im Jahre 2000 geplant, professionelle Schauspieler als falsche Patienten in Krankenhäuser und Ordinationen zu schicken, wo sie verschiedene Krankheitssymptome vortäuschen sollen. Jene Ärzte, die dann eine falsche Diagnose stellen, bekommen Schwierigkeiten. Bewertet wird auch, wie sich die Ärzte gegenüber den scheinbar Kranken verhalten. Na, das kann ja heiter werden, wenn ein Schauspieler Bauchschmerzen simuliert, der Arzt eine Blinddarmentzündung diagnostiziert und operieren will, und bevor es zur Aufklärung kommt, ist der »Patient« schon in Narkose. Was meldet dann der operierte Schauspieler? Hat er zu gut gespielt, ist er seinen Blinddarm losgeworden.
Aus all dem ergibt sich aber die erschütternde Erkenntnis, dass das Vertrauen in die Ärzte rapid abnimmt. Natürlich sind nicht die Patienten daran schuld. Wir Mediziner sollten uns ernsthaft fragen: Musste es so weit kommen? Obwohl das Bild von den Göttern in Weiß endgültig abgeschafft ist, sollten wir nicht vergessen, sondern daran erinnern, was der große österreichische Arzt Karl Fellinger (1904-2000) sagte:
»Jeder zwanzigste Arzt greift daneben, aber jeder zweite heilt.«
Großbritannien hat im Jahre 2000 als erstes Land der Europäischen Union Zahlen veröffentlicht. Im Schnitt gibt es jährlich rund 850 000 schwere Behandlungsfehler der Ärzte. Die nationale britische Gesundheitsbehörde zahlt pro Jahr rund 665 Mio. Euro an die Opfer.
Das Versagen der Ärzte macht auch vor den Großen der Weltgeschichte nicht Halt
Wer schweigt, ist schuldig
Am 26. September 1973 wurde die große österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann in das Krankenhaus Sant Eugenio in Rom eingeliefert. Sie hatte Verbrennungen zweiten und dritten Grades, Brandblasen und Hautzerstörungen im Ausmaß von 36 % ihrer Körperoberfläche. Bei dieser Ausdehnung der Brandwunden bestand absolute Lebensgefahr. Ursache der Verbrennung war angeblich eine brennende Zigarette, die ihr Nylonnachthemd entzündet hatte; solche Kunstfaserstoffe stehen sofort flächenhaft in Flammen und kleben an der Haut.
Am Nachmittag des gleichen Tages spricht Ingeborg Bachmann noch durch die Besuchersprechanlage mit einer Bekannten, wenige Stunden später verliert sie das Bewusstsein. In den folgenden Tagen treten epilepsieartige Krampfanfälle auf, die Ärzte stehen vor der Frage, Epilepsie oder Entzugserscheinungen einer Suchtkrankheit. Freunde und Familie werden diesbezüglich befragt, ohne brauchbare Anhaltspunkte zu erhalten. Während die Heilung der Brandwunden einen normalen Verlauf nimmt, gelingt es nicht, die Krampfanfälle unter Kontrolle zu bringen. Die gesuchte Aufklärung kommt erst am 15. Oktober, 20 Tage nach der Verbrennung.
Die Gattin des Schweizer Arztes Dr. Fred Auer erscheint im Krankenhaus und teilt mit, dass Ingeborg Bachmann durch Mischen von Medomin, einem Betäubungspräparat, und Alkohol ihre psychischen Konflikte bekämpft habe. Die behandelnden
Ärzte lassen der Patientin eine verdünnte Alkohollösung verabreichen, auf die sie »gut reagiert«. Damit ist medizinisch das Problem geklärt - es handelte sich um »Entzugsanfälle bzw. Delirien« -, aber es konnte der schwer geschädigten Patientin nicht mehr geholfen werden. Frau Auer wird nochmals befragt, ob Ingeborg Bachmann außer dem »Medomin- und Whisky-Cocktail« nicht noch ein anderes Psychopharmakon genommen habe. Diese reagiert betroffen, bejaht die Frage, kann sich aber angeblich an den Namen des Mittels nicht erinnern.
Tags darauf erscheint auch Dr. Fred
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