Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
hätte Zeit gehabt, Prudence zu töten und in den Wäscheschacht zu stecken ohne Angst haben zu müssen, daß man ihn entdeckte; und sah man ihn doch, dann brauchte er sich noch nicht einmal notwendigerweise Sorgen zu machen, von einem Zeugen wiedererkannt zu werden.
    Sie drehte sich um und ging Richtung Treppe und wäre beinahe in die riesige Gestalt Dora Parsons gelaufen, die mit verschränkten Armen auf dem Korridor stand.
    »Oh!« Hester blieb wie angewurzelt stehen; ein eiskalter Schauer überlief sie.
    Dora griff nach ihr wie ein Schraubstock. Sich zu wehren wäre völlig zwecklos gewesen.
    »Na, was treiben wir denn hier im Finstern neben dem Wäscheschacht, Miss?« fragte Dora ruhig, ihre Stimme kaum mehr als ein heiseres Flüstern.
    Hesters Verstand war wie taub. Rein instinktiv hätte sie gelogen, aber so aufmerksam, wie Doras leuchtende, verschiedenfarbige Augen sie musterten, sah sie nicht danach aus, als ließe sie sich einen Bären aufbinden; im Gegenteil, sie machte einen schrecklich wissenden Eindruck.
    »Ich…«, stammelte Hester, und die eisige Furcht wich der Hitze der Panik. Kein Mensch weit und breit, der sie gehört hätte. Der tiefe Treppenschacht war nur zwei Schritte von ihnen entfernt. Die mächtigen Schultern brauchten sie nur mal rasch anzuheben, und schon würde sie neun, zehn Meter tiefer auf dem Steinboden der Waschküche landen. War es Prudence genauso ergangen? Einige Augenblicke lähmenden Schreckens, und dann der Tod. War die Antwort so einfach: eine ebenso riesige wie häßliche Krankenschwester mit einem unerschütterlichen Haß auf Frauen, die mit neuen Ideen und Richtlinien ihr Auskommen bedrohten?
    »Na, was ist?« wollte Dora wissen. »Was denn? Hat’s dir die Sprache verschlagen? Jetzt sind wir nicht mehr so klug, was?« Sie schüttelte Hester grob – wie eine Ratte. »Was hast du da gemacht? Auf was hast du denn gewartet, eh?«
    Ihr fiel keine glaubwürdige Lüge ein. Dann könnte sie ebensogut an der Wahrheit sterben. Es kam ihr in den Sinn zu schreien, aber womöglich geriet Dora dann in Panik und brachte sie auf der Stelle um.
    »Ich…« Ihr Mund war so trocken, daß sie erst ein paarmal würgen und schlucken mußte, bevor sie die Worte hervorbrachte. »Ich…«, setzte sie wieder an, »wollte nur sehen, wie verlassen… der Korridor um diese Tageszeit ist. Wer hier normalerweise vorbeikommt.« Sie schluckte wieder. Doras riesige Pranken hielten ihre Arme so fest, daß sie morgen blaue Flecken haben würde – wenn es überhaupt ein Morgen gab.
    Doras Gesicht rückte ein Stückchen näher, so daß Hester die offenen Poren ihrer Haut und jede einzelne ihrer kurzen schwarzen Wimpern sah.
    »Na, das ist ja wohl klar«, zischte Dora leise. »Bloß weil ich nich’ auf der Schule gewesen bin, brauch’ ich ja noch lange nich’ blöd zu sein! Wen hast du denn gesehen? Und was int’ressiert dich das überhaupt? Du warst ja noch nicht mal bei uns, als sie das Luder abgemurkst haben. Also, was int’ressiert dich das? Das möchte’ ich jetzt wissen.« Sie musterte sie von oben bis unten. »Bist du bloß so’n neugieriges Frauenzimmer, oder hast du ’n Grund dafür?«
    Hester konnte sich nicht vorstellen, daß die reine Neugierde sie in Doras Augen entschuldigen könnte. Ein Grund wäre zudem viel glaubwürdiger.
    »Einen Grund?« keuchte sie.
    »Ja. Um was geht’s denn?«
    Sie waren jetzt nur noch einen Schritt vom Geländer und dem Sturz in den Treppenschacht entfernt. Ein rascher Ruck dieser breiten Schultern, und Hester wäre hinüber.
    Was würde sie ihr glauben? Und womit würde sie sich nicht ihren Haß zuziehen? Die Wahrheit spielte jetzt wirklich keine Rolle.
    »Ich… ich wollte nur sichergehen, daß sie Dr. Beck nichts anhängen, nur weil er Ausländer ist!« keuchte sie.
    »Wieso?« Doras Augen wurden schmal. »Was int’ressiert dich das, was die machen?« wollte sie wissen. »Du bist doch eben erst gekommen! Kann dir doch schnuppe sein, ob sie den aufhängen.«
    »Ich kenne ihn von früher!« Hester erwärmte sich langsam für ihre Lüge. Sie hörte sich gut an.
    »Ach ja? Und wo soll das gewesen sein, he? Er hat im Krieg nicht im Lazarett gearbeitet! Weil er nämlich hier gewesen ist!«
    »Das weiß ich selbst!« gab Hester bissig zurück. »Der Krieg hat aber nur zwei Jahre gedauert!«
    »Bist wohl scharf auf ihn, was?« Doras Griff lockerte sich etwas. »Wirst du aber nicht weit kommen bei dem. Der ist nämlich verheiratet. Mit einem eiskalten Luder mit

Weitere Kostenlose Bücher