Im Schatten der Gerechtigkeit
an – mit der Polizei in jedem Winkel. Zu erreichen scheinen sie freilich nichts.«
»Ich bezweifle, daß sie uns das sagen würden«, sagte Kristian bedauernd. Dann antwortete er mit einem dünnen Lächeln, das voller Zweifel und Selbstironie war. »Ich bin sicher, sie verdächtigen mich! Inspektor Jeavis fragt mich immer wieder nach meiner Auseinandersetzung mit der armen Schwester Barrymore. Die mir mittlerweile auch wieder eingefallen ist es ging um einen Fehler eines Studenten, der meiner Ansicht nach keiner war. Man muß sich wirklich fragen, was man da gehört hat, und wer.« Er schüttelte leicht den Kopf. »Ich habe mir noch nie große Gedanken darüber gemacht, was die Leute von mir denken könnten, aber jetzt, muß ich gestehen, will es mir kaum mehr aus dem Kopf.«
Callandra sah ihn nicht direkt an, ihre Wangen glühten noch immer. »Sie können sich Ihr Leben nicht von der Angst diktieren lassen, was andere von Ihnen halten könnten. Wenn Sie… wenn Sie nach bestem Wissen und Gewissen handeln, dann sollen sie doch denken, was sie wollen.« Sie atmete tief ein, sagte aber nichts mehr.
Hester und Kristian warteten darauf, daß sie fortfuhr, aber sie schwieg. So wie ihre Worte im Raum standen, hörten sie sich banal an, was Callandra gar nicht ähnlich sah.
»Macht…« Sie sah Kristian geradewegs in die Augen.
»Macht Jeavis Ihnen denn Kummer?« Diesmal durchforschte sie sein Gesicht.
»Ich habe es nicht gern, verdächtigt zu werden«, antwortete er ganz offen. »Aber ich weiß, der Mann tut nur seine Pflicht. Ich wollte, ich hätte auch nur die geringste Ahnung, was der armen Schwester Barrymore tatsächlich zugestoßen ist, aber so sehr ich mich anstrenge, es will mir nichts einfallen.«
»Es gibt unzählige Gründe, warum sie jemand getötet haben könnte!« sagte Callandra mit plötzlichem Ingrimm. »Ein abgewiesener Liebhaber, eine eifersüchtige Frau, eine neidische Schwester, ein Verrückter oder ein unzufriedener Patient, alle möglichen Leute.« Etwas außer Atem und ohne einen Blick für Hester verstummte sie.
»Ich gehe davon aus, daß Jeavis sich das auch überlegt hat.« Kristian zog ein Gesicht. Er ließ Callandra nicht aus den Augen.
»Ich hoffe nur, er verfolgt diese Gedanken mit demselben Fleiß. Wollten Sie mit mir über etwas sprechen? Oder ist unsere Begegnung rein zufällig?«
»Reiner… Zufall«, antwortete Callandra. »Ich bin… auf dem Weg zum Kaplan.«
Kristian deutete eine Verbeugung an und entschuldigte sich, bevor er Callandra und Hester allein ließ. Offensichtlich ohne es zu bemerken, sah Callandra ihm nach, bis er um die Ecke in einer der Stationen verschwand, dann wandte sie sich an Hester.
»Wie geht es Ihnen, meine Liebe?« fragte sie mit einer plötzlichen Sanftheit in der Stimme. »Sie sehen müde aus.« Sie sah selbst völlig erschöpft aus. Ihre Haut war blaß und ihr Haar wilder denn je, man hätte meinen können, sie hätte es sich in ihrer Verstörtheit gerauft.
Hester vergaß ihre eigenen Gefühle. Offensichtlich hatte Callandra ein großes Problem, und sie konzentrierte sich ganz darauf, wie sie ihr helfen konnte. Dabei war sie sich noch nicht einmal sicher, ob sie sich überhaupt anmerken lassen sollte, daß sie etwas gemerkt hatte, geschweige denn danach fragen, was los war. Irgend etwas an Callandras Haltung sagte ihr, daß es sich um etwas Privates handelte, und aller Wahrscheinlichkeit nach war das nicht der geringste Teil ihrer Last.
Sie zwang sich zu einer beiläufigen Miene. »Das bin ich im Augenblick auch«, gab sie zu. »Aber es ist eine lohnende Arbeit. Sir Herbert ist ein brillanter Chirurg. Er ist nicht nur gut, er hat auch Mut.«
»Ja, in der Tat«, pflichtete Callandra ihr mit aufflammender Begeisterung bei. »Ich habe gehört, er steht ganz oben auf der Liste für den Posten eines medizinischen Beraters für jemanden aus dem Königshaus – ich habe vergessen, für wen.«
»Kein Wunder, daß er so zufrieden aussieht«, sagte Hester sofort. »Aber höchstwahrscheinlich hat er es wirklich verdient. Trotzdem, es ist eine große Ehre.«
»In der Tat.« Callandras Gesicht bewölkte sich wieder.
»Hester, haben Sie William in letzter Zeit gesprochen? Wissen Sie, wie er vorankommt – ob er in unserer Sache etwas erfahren hat?«Ihre Stimme war nervös, und sie blickte Hester mit einer Unruhe an, die sich nicht verbergen ließ.
»Ich habe ihn seit ein, zwei Tagen nicht mehr gesehen«, antwortete Hester und wünschte sich, sie
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