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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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könnte ihr mehr sagen. Was machte Callandra nur solche Sorgen? Für gewöhnlich war sie eine äußerst sensible Frau voller Mitgefühl und Kampfwillen, die über eine innere Ruhe verfügte, eine Sicherheit, die durch äußerliche Einwirkungen nicht zu erschüttern war. Mit einemmal war dieser ruhige Kern nicht mehr da. Was immer es war, was sie so fürchtete, es hatte sie in ihrem Innersten getroffen.
    Und es hatte mit Kristian Beck zu tun. Dessen war Hester ziemlich sicher. Hatte sie die Gerüchte von seinem Streit mit Prudence gehört und befürchtete nun, er könnte schuldig sein? Aber selbst wenn, warum sollte ihr das mehr Kummer bereiten als den anderen hier? Warum sollte es sie auf eine so tiefgehende Weise beunruhigen?
    Die Antwort lag auf der Hand. Hester sah nur einen einzigen Grund, warum sie das derart beunruhigen sollte. Ihre Gedanken flogen zurück zu einer bitterkalten Nacht während der Belagerung von Sewastopol. Schnee hatte die Hügel in Weiß gehüllt und dämpfte jeden Laut. Über allem lag eine beißende Kälte. Der Wind war so stark geworden, daß er sich durch die dünnen Decken fraß; die Männer saßen zusammengekauert und zitternd da. Alle waren hungrig. Selbst jetzt konnte sie es nicht ertragen, an die Pferde zu denken.
    Sie hatte sich eingebildet, einen der Ärzte zu lieben – obwohl, wo war schon der Unterschied zwischen »lieben« und es sich nur »einzubilden«? Kann man ein Gefühl danach unterscheiden, ob es von Dauer ist oder nicht – Schmerz zum Beispiel? Es schmerzt auch, wenn man nur glaubt, sich weh getan zu haben.
    Sie erkannte in jener Nacht, daß er auf dem Schlachtfeld solche Angst gehabt hatte, daß er Verwundete hatte liegen und sterben lassen. Sie erinnerte sich noch heute gut an die Qualen, die ihr diese Entdeckung bereitet hatte, und das, obwohl sie seit Jahren nur noch Mitleid für ihn empfand.
    Callandra liebte Kristian Beck. Jetzt, wo ihr das klar war, fragte sie sich, wieso ihr das bisher entgangen war. Und sie hatte eine entsetzliche Angst davor, daß er schuldig sein könnte. Steckte dahinter mehr als Jeavis’ Verdächtigungen wegen eines halb mitgehörten Streits? Hatte sie selbst noch mehr erfahren?
    Ein Blick auf Callandras blasses, müdes Gesicht sagte ihr, daß sie ihr nichts erzählen würde. Hester hätte das an ihrer Stelle auch nicht getan. Sie hätte sich weiterhin an den Glauben geklammert, daß es einen Grund geben mußte, irgendeine Erklärung, die alles in ein anderes Licht rückte.
    »Ich gehe ihn mal besser suchen und berichte ihm von meinen Fortschritten«, sagte sie und riß Callandra damit aus ihren Gedanken. »So wenig es auch ist.«
    »Ja… natürlich«, sagte Callandra. »Dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Aber sehen Sie zu, daß Sie etwas Schlaf bekommen, meine Liebe. Jeder braucht seine Ruhe, woher sollte man sonst die Kraft nehmen, um nützlich zu sein?«
    Hester lächelte kurz, als könnte sie ihr nur beipflichten; dann entschuldigte sie sich.
    Bevor Hester Monk wieder traf, wollte sie noch einmal einen Blick in den Korridor mit dem Wäscheschacht werfen, und zwar um sieben Uhr morgens, also etwa zur gleichen Zeit, in der man Prudence ermordet hatte. Sie sorgte dafür, daß sie um halb sieben aufwachte, und stand gegen sieben allein vor dem Schacht. Draußen war es längst hell, und das seit fast drei Stunden, aber dieser Abschnitt des Flurs war düster, weil es hier keine Fenster gab und man das Gaslicht um diese Jahreszeit tagsüber nicht anmachte.
    Sie lehnte sich gegen die Wand und wartete. Innerhalb von fünfunddreißig Minuten kam ein Operationsassistent mit einem Bündel Bandagen vorbei; er sah weder nach rechts noch nach links. Er machte einen müden Eindruck, und Hester hielt es für gut möglich, daß er sie noch nicht einmal sah. Und falls er sie gesehen hatte, so bezweifelte sie doch sehr, daß er hinterher noch hätte sagen können, wer es war.
    Eine Schwester kam vorbei; sie ging in die entgegengesetzte Richtung. Verärgert beschimpfte sie Hester, ohne sie auch nur eines Blicks zu würdigen. Wahrscheinlich war sie müde, hungrig und sah ihre Zukunft als eine endlose Folge ewig gleicher Tage und Nächte. Hester hatte nicht den Mut zurückzuschimpfen.
    Nachdem sie eine weitere Viertelstunde lang niemanden gesehen hatte, beschloß sie zu gehen. Sie hatte erfahren, was sie wissen wollte. Vielleicht wußte Monk es ja bereits, aber falls dem so war, dann aus anderen Hinweisen. Jedenfalls war sie sich jetzt sicher: Jeder

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