Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
normalerweise der Verwaltungsrat traf, einem eleganten, geräumigen Zimmer mit einem langen, von Stühlen gesäumten Mahagonitisch, Drucken an den Wänden und Brokatvorhängen. Ihr Kleid war von einem satten Grün und mit türkisen Borten besetzt. Es war teuer und schmeichelte ihrem kastanienbraunen Haar. Die gewaltigen Röcke waren ziemlich ausladend, aber sie bewegte sie mit müheloser Eleganz.
    Amüsiert betrachtete sie Monk, musterte seine Züge, die starke Nase, die hohen Backenknochen, die ruhigen, unerschrockenen Augen. Er sah das Aufleuchten ihres Interesses, das Lächeln auf ihren Lippen. Er hatte diesen Blick schon oft gesehen und wußte ihn befriedigt zu deuten.
    »Armer Sir Herbert.« Sie hob die geschwungenen Brauen.
    »Eine absolut schreckliche Sache. Ich wünschte, ich wüßte, was ich sagen soll, um Ihnen zu helfen, aber was kann ich tun?« Sie hob anmutig die Achseln. »Ich habe keine Ahnung von den privaten Schwächen des Mannes. Ich fand ihn zu allen Zeiten höflich, ausgesprochen professionell und korrekt. Aber andererseits«, sie lächelte Monk an, und ihr Blick traf den seinen, »wenn ihm nach einer heimlichen Romanze war, dann wäre seine Wahl sicher nicht auf mich gefallen.« Ihr Lächeln wurde breiter. Sie wußte, es war die Wahrheit und eine Lüge zugleich. Und sie erwartete von ihm, daß er diese Doppeldeutigkeit entschlüsselte. Sie war keine, die man sich zum Zeitvertreib nahm und wieder ablegte; auf der anderen Seite war sie eine elegante Dame von Welt, auf ihre eigene Art fast schön, vielleicht sogar mehr als schön, denn sie hatte Charakter. Prudence hielt sie für geziert und naiv und, was Charme und Anziehungskraft anbelangte, ihr hoffnungslos unterlegen.
    Monk hatte keine speziellen Erinnerungen, und doch wußte er, er war nicht das erste Mal in dieser Situation – in Gegenwart einer wohlhabenden, belesenen Frau, die ihn aufregend fand und seinen Beruf und seine Aufgabe nur allzugern vergaß.
    Er erwiderte ihr Lächeln andeutungsweise, gerade genug, um höflich zu sein, ohne ein Interesse seinerseits zu verraten.
    »Sicher gehört es als Angehörige des Verwaltungsrates zu Ihren Obliegenheiten, Lady Ross Gilbert, sich ein Bild von Moral und Unzulänglichkeiten des Personals zu machen. Und ich kann mir vorstellen, daß Sie, was die menschliche Natur anbelangt, über eine scharfe Beobachtungsgabe verfügen, gerade auf diesem Gebiet.« Er sah das belustigte Glitzern in ihren Augen. »In welchem Ruf steht Sir Herbert? Und bitte, seien Sie ehrlich, Schönfärbereien sind weder in seinem noch im Interesse des Hospitals!«
    »Ich gebe mich nur selten mit Schönfärbereien ab, Mr. Monk«, sagte sie, noch immer das Lächeln auf den Lippen. So wie sie etwas gegen einen Stuhl gelehnt stand, war ihre Haltung ausgesprochen elegant. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas Interessanteres sagen, aber ich habe im Zusammenhang mit Sir Herbert nie auch nur vom Hauch eines Skandals gehört.« Sie verzog das Gesicht zu einer kleinen Maske spöttischer Trauer.
    »Ganz im Gegenteil, er scheint ein ausgezeichneter Chirurg zu sein, wenn auch persönlich bis zur Langeweile korrekt, ziemlich aufgeblasen und von sich selbst eingenommen. Gesellschaftlich, politisch und religiös völlig konventionell.«
    Sie ließ Monk nicht einen Moment aus den Augen. »Ich bezweifle, daß er in seinem Leben auch nur einen originellen Gedanken gehabt hat, von der Medizin einmal abgesehen, wo er innovativ und mutig ist. Man könnte meinen, sie habe ihn sämtlicher schöpferischen Energien und anderer Interessen beraubt, und was übriggeblieben ist, ist langweilig bis dorthinaus.« Das Lachen in ihren Augen war scharf, das Interesse in ihrem Blick wurde immer offener; sie sagte ihm damit, daß sie ihn nicht einen Augenblick in diese Kategorie einreihte.
    »Kennen Sie ihn persönlich, Lady Ross Gilbert?« fragte er und beobachtete dabei ihr Gesicht.
    Wieder hob sie die Achseln, die eine ein klein wenig höher als die andere. »Nur soweit es das Geschäftliche erfordert, und das ist nicht sehr viel. Ich bin Lady Stanhope gesellschaftlich begegnet, wenn auch nicht sehr oft.« Ihre Stimme änderte sich eine Nuance, um behutsam ihre Verachtung anzudeuten. »Sie ist eine ausgesprochen zurückhaltende Person. Sie zieht es vor, ihre Zeit zu Hause bei den Kindern zu verbringen – sieben, wie ich glaube. Aber sie schien mir immer eine ausgesprochen angenehme Person – nicht modisch, Sie verstehen, aber durchaus attraktiv, sehr

Weitere Kostenlose Bücher