Im Schatten der Gerechtigkeit
offensichtlich gedroht, wäre durchaus ein Motiv für den Mord – ein sehr einfaches, das jede Jury problemlos schlucken würde.
Auf der anderen Seite jedoch war Rathbones Version, laut der sich alles nur in Prudence' überhitzter Phantasie abgespielt hatte, ziemlich glaubwürdig – bei jeder anderen außer Prudence Barrymore. Oder hatte Monk ihre moralische Stärke, ihre übermenschliche Hingabe an die Pflicht überbewertet und dabei ihre ganz gewöhnlichen menschlichen Schwächen übersehen? Hatte er einmal mehr ein Phantasiewesen geschaffen, das in seiner Überlegenheit mit einer Frau aus Fleisch und Blut nicht das geringste zu tun hatte?
Es war ein schmerzlicher Gedanke. Und dennoch, sosehr er ihn auch traf, er ließ sich nicht verdrängen. Er hatte Hermione Qualitäten angedichtet, die sie nicht hatte, und vielleicht auch Imogen Latterly. Wie viele andere Frauen mochte er wohl derart idealisiert und damit hoffnungslos mißverstanden haben?
Es hatte fast den Anschein, als fehle es ihm, was Frauen betraf, sowohl an Urteilsvermögen als auch an der Fähigkeit, aus seinen Fehlern zu lernen.
Wenigstens hatte er seine beruflichen Fertigkeiten, seine Arbeit. Jetzt galt es, sich Rathbones Problem zu widmen und Stanhopes Unschuld nicht weniger hartnäckig zu beweisen versuchen als zuvor seine Schuld. Und vielleicht noch mehr, und sei es auch nur, um sich selbst zufriedenzustellen. Die Beweiskraft der Briefe war stark, hieb und stichfest waren sie nicht. Der einzig schlüssige Beweis wäre, aufzuzeigen, daß er es unmöglich gewesen sein konnte; und da er sowohl Mittel und Gelegenheit gehabt hatte, von einem Motiv ganz zu schweigen, hatte es keinen Sinn, diese Richtung einzuschlagen. Die Alternative bestand darin, zu beweisen, daß es ein anderer war. Das war die einzige Möglichkeit, einen zweifelsfreien Freispruch zu erwirken. Zweifel unter den Geschworenen mochten ihn zwar der Schlinge des Henkers entziehen, konnten aber weder Ehre noch Ruf wiederherstellen.
War er denn unschuldig?
Weit schlimmer noch als einen Schuldigen ungestraft davonkommen zu lassen, war Verurteilung und der Tod eines Unschuldigen.
Aber es gab keine Indizien für die Schuld eines anderen: weder Fußspuren noch Kleiderfetzen, noch Zeugen, die etwas gehört oder gesehen hatten – nicht eine Lüge, in der sich einer hätte fangen können.
Wenn nicht Sir Herbert, wer war es dann gewesen?
Er wußte nicht, wo er anfangen sollte. Er hatte zwei Möglichkeiten: die Schuld eines anderen zu beweisen, was vielleicht unmöglich war, oder einen so starken Zweifel an Sir Herberts Schuld zu wecken, daß die Geschworenen ihn nicht schuldig sprechen konnten. Was ersteres anbelangte, so hatte er bereits alles getan, was ihm einfallen wollte. Bis ihm eine neue Idee kam, würde ihm also nichts anderes übrigbleiben, als die zweite Möglichkeit zu verfolgen. Er würde mit Sir Herberts Kollegen sprechen, um in Erfahrung zu bringen, welchen Ruf er bei ihnen genoß. Sie könnten sich immerhin als eindrucksvolle Leumundszeugen erweisen.
Es folgten einige Tage mit Routinearbeit: äußerst höfliche Befragungen, in denen er seinem Gegenüber Kommentare zu entlocken versuchte, die tiefer gingen als dick aufgetragenes Kollegenlob oder die vorsichtig geäußerte Ansicht, daß man Sir Herbert derlei nicht zutraue. Ebensowenig wie ihm die nervöse Zusicherung genügte, zu seinen Gunsten auszusagen, wenn es denn unbedingt nötig sei. Die offensichtliche Nervosität der Leute aus dem Verwaltungsrat entsprang der Angst, in irgendeine häßliche Geschichte verwickelt zu werden. Es war ihren gequälten Mienen anzusehen, daß sie hin und her gerissen waren, was Sir Herberts Schuld anbelangte – sie wußten nicht, mit wem sie es halten sollten, wollten sie nicht mit einer verlorenen Sache untergehen.
Bei Mrs. Flaherty stieß er auf hartnäckiges Schweigen; sie werde weder ihre Meinung äußern noch vor Gericht aussagen, sollte man sie darum bitten. Sie hatte eindeutig Angst, und wie so viele, die sich wehrlos fühlen, verweigerte sie sich kategorisch. Monk stellte zu seiner Überraschung fest, daß er sie nicht nur verstand, sondern auch mehr Geduld dafür aufbrachte, als er sich zugetraut hätte. Selbst auf dem trostlosen Krankenhauskorridor, das spitze blasse Gesicht vor sich, die leuchtenden Flecken auf den Backenknochen, sah er, wie verwirrt und verwundbar sie war.
Berenice Ross Gilbert war da ein ganz ariderer Fall. Sie empfing ihn in dem Raum, in dem sich
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