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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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nicht!« sagte Oliver voller Abscheu. Er war nicht wütend; dazu war der Gedanke viel zu absurd.
    »Fürchtest du denn, Sir Herbert könnte schuldig sein?« Diesmal fiel die Antwort überlegter aus. »Nein. Nein, ganz und gar nicht. Es ist ein schwieriger Fall, es gibt keine wirklichen Beweise, aber ich glaube ihm. Ich weiß, wie es ist, wenn eine junge Frau Bewunderung und Dankbarkeit mit romantischer Hingabe verwechselt. Und man hat nicht die geringste Ahnung davon – außer daß man sich irgendwie in seiner Eitelkeit geschmeichelt fühlt, das gebe ich, wenn auch widerwillig, zu. Und mit einemmal hat man sie vor sich, mit wogendem Busen, schmelzenden Augen und erhitzten Wangen – und du stehst da, entsetzt, mit trockenem Mund und rasendem Verstand, siehst dich als Opfer und Schurke zugleich und fragst dich, wie du da wieder ehrenvoll und mit einem gewissen Maß an Würde herauskommen sollst!«
    Henry lächelte so offen, daß es schon fast an ein Lachen grenzte.
    »Das ist nicht komisch!« protestierte Oliver.
    »O doch – köstlich sogar. Mein lieber Junge, die Eleganz deiner Kleidung, deine wohlgesetzten Worte, deine Eitelkeit, das alles wird dich eines Tages noch in schreckliche Schwierigkeiten bringen! Was ist denn dieser Sir Herbert für einer?«
    »Ich bin nicht eitel!«
    »Ja, von wegen! Aber es ist ein kleiner Fehler im Vergleich zu vielen anderen; man muß dir auch einiges zugute halten. Erzähl mir von Sir Herbert.«
    »Seine Kleidung ist alles andere als elegant«, begann Oliver etwas pikiert. »Er kleidet sich teuer, aber sein Geschmack ist sehr sachlich, Figur und Haltung sind etwas zu stattlich, um anmutig zu wirken. Gediegen wäre das richtige Wort für ihn.«
    »Was mehr über deine Gefühle für den Mann sagt als über ihn selbst«, bemerkte Henry. »Ist er eitel?«
    »Ja. In intellektueller Hinsicht. Ich halte es für gut möglich, daß sie ihm noch nicht einmal aufgefallen ist – außer als ungewöhnlich tüchtiger verlängerter Arm seiner eigenen Fertigkeiten. Es würde mich sehr überraschen, wenn er sich überhaupt Gedanken über ihre Gefühle gemacht hätte. Er erwartet nichts als Bewunderung, und nach allem, was ich gehört habe, bekommt er sie auch.«
    »Aber er ist nicht schuldig?« Henry runzelte die Stirn. »Was hätte er zu verlieren gehabt, wenn sie ihn einer Ungehörigkeit bezichtigt hätte?«
    »Nicht annähernd so viel wie sie selbst. Kein Mensch von Rang und Namen würde ihr glauben. Und es gäbe keinerlei Beweise dafür außer ihrem eigenen Wort. Sein Ruf ist makellos.«
    »Was beunruhigt dich denn dann so? Dein Mandant ist unschuldig. Gib dir Mühe, und du hast eine reelle Chance, einen Freispruch zu erwirken.«
    Oliver antwortete nicht. Das Licht begann langsam nachzulassen, und die Farben wurden satter, als die Schatten sich über dem Rasen ausbreiteten.
    »Hast du dich danebenbenommen?«
    »Ja, ich wußte mir keinen anderen Ausweg – aber ja, ich habe das Gefühl, mich danebenbenommen zu haben.«
    »Was hast du getan?«
    »Ich habe Barrymore in der Luft zerrissen – ihren Vater«, antwortete Oliver leise. »Einen ehrlichen, anständigen, vom Schmerz über den Tod seiner über alles geliebten Tochter überwältigten Mann. Ich habe alles getan, um ihn davon zu überzeugen, daß sie eine Tagträumerin war, die sich in Phantasien über ihre Fähigkeiten erging und dann auch noch Lügen darüber verbreitete. Ich habe aufzuzeigen versucht, daß sie nicht die Heldin war, die sie schien, sondern eine unglückliche Frau, deren Träume sich nicht verwirklicht hatten. Worauf sie sich eine Traumwelt schuf, in der sie klüger, tapferer und geschickter war, als das in Wirklichkeit der Fall war.« Er atmete scharf ein. »Ich konnte es ihm ansehen, daß ich selbst in ihm Zweifel geweckt habe! Gott, wie ich solche Manöver verabscheue! Ich glaube nicht, daß ich mir jemals schäbiger vorgekommen bin!«
    »Ist es denn wahr?« Henrys Stimme war liebenswürdig.
    »Ich weiß es nicht! Möglich wäre es!« sagte Oliver wütend.
    »Aber das ist es ja gar nicht! Ich habe die Träume des Mannes mit meinen schmutzigen, respektlosen Fingern berührt! Ich habe das Kostbarste, das er hatte, an die Öffentlichkeit gezerrt und in häßliche Zweifel getunkt. Ich konnte richtig spüren, wie die Leute mich haßten, mitsamt den Geschworenen, und das war noch gar nichts im Vergleich zu meinem Abscheu vor mir selbst!« Er lachte plötzlich auf. »Ich glaube, nur Monk hat mich noch mehr verabscheut, und als

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