Im Schatten der Gerechtigkeit
ich ging, habe ich schon gedacht, er würde mir einen Schlag versetzen. Er war ganz weiß vor Wut. Als ich ihm in die Augen sah, bekam ich richtiggehend Angst!« Er lachte unsicher, als er an den Augenblick auf der Treppe des Old Bailey dachte. An die Ohnmacht, den Selbsthaß.
Henry sah ihn mit glänzenden, traurigen Augen an. Sein Ausdruck zeugte von seiner Liebe und dem Wunsch, ihn zu schützen, sein Verhalten zu entschuldigen, hatte er freilich nicht die Absicht. »War es denn eine berechtigte Frage?« wollte er wissen.
»Ja, natürlich! Sie war eine hochintelligente Frau; nicht mal ein Idiot wäre auf den Gedanken gekommen, Sir Herbert würde für sie seine Frau und sieben Kinder verlassen und sich beruflich, gesellschaftlich und finanziell ruinieren! Das ist doch absurd!«
»Und was bringt dich zu der Annahme, daß sie das geglaubt haben könnte?«
Schwester hat sie identifiziert.«
»Vielleicht war sie eine zerrissene Frau mit zwei sehr unterschiedlichen Seiten, die eine rational, tapfer und tüchtig, die andere bar jeder Vernunft, ja ohne die Spur eines Selbsterhaltungstriebs«, gab Henry zu bedenken.
»So wird es wohl sein.«
»Wieso machst du dir dann Vorwürfe? Was hast du dann falsch gemacht?«
»Ich habe Träume zerstört, Barrymore seines kostbarsten Glaubens beraubt – und womöglich noch andere, mit Sicherheit Monk.«
»Du hast sie in Frage gestellt«, korrigierte ihn Henry. »Du hast niemanden beraubt – jedenfalls noch nicht.«
»Und ob ich das habe. Ich habe Zweifel gesät. Ihr Gedenken ist besudelt. Sie wird nie wieder sein wie zuvor.«
»Was glaubst du denn?«
Oliver überlegte eine ganze Weile. Die Stare waren endlich verstummt. Mit zunehmender Dämmerung nahm der Duft des Geißblatts noch zu.
»Ich glaube, daß es da etwas verdammt Wichtiges gibt, was ich noch nicht weiß«, antwortete er schließlich. »Und ich weiß es nicht nur nicht, ich weiß noch nicht einmal, wo ich danach suchen soll.«
»Dann trau deinem Glauben«, riet Henry ihm. Seine Stimme wirkte tröstlich in dem mittlerweile nahezu dunklen Raum.
»Wenn du nichts Bestimmtes weißt, ist das alles, was du tun kannst.«
Der zweite Tag verging damit, daß Lovat-Smith eine ermüdende Prozession von Krankenhausangestellten aufziehen ließ, die Prudence’ berufliche Fähigkeiten bestätigten. Er sorgte tunlichst dafür, daß man ihr zu keinem Zeitpunkt zu nahe trat. Ein-, zweimal sah er Rathbone lächelnd und mit strahlenden grauen Augen an. Er kannte den exakten Stellenwert jedes einzelnen Gefühls, das hier eine Rolle spielte. Es war sinnlos, auf einen Fehler seinerseits zu hoffen. Einer nach der anderen entlockte er ihnen ihre Beobachtungen: zu Prudence’ Verehrung für Sir Herbert, daß er ungewöhnlich oft mit ihr allein zu arbeiten wünschte, ihren offensichtlich zwanglosen Umgang miteinander und schließlich ihre augenscheinliche Hingabe an ihn.
Rathbone tat sein möglichstes, die Wirkung abzuschwächen, indem er darauf verwies, Prudence’ Gefühle für Sir Herbert seien noch lange kein Beweis für seine Gefühle ihr gegenüber und daß er sich der Tatsache, daß ihre Gefühle anderer Natur als rein beruflicher waren, noch nicht einmal bewußt gewesen sei. Ganz zu schweigen davon, daß er sie ermutigt hätte. Er hatte jedoch das zunehmend ungute Gefühl, alle Sympathien verloren zu haben. Sir Herbert war nicht leicht zu verteidigen; er war kein Mann, der Sympathien weckte. Dafür schien er zu gesetzt, zu sehr Herr seines Geschicks. Er war gewohnt, mit Menschen zu tun zu haben, die ganz und gar von ihm abhängig waren, was ihre Schmerzen, ja selbst ihre physische Existenz anbelangte.
Rathbone legte sich die Frage vor, ob er hinter seiner maskenhaften Gesetztheit wohl Angst hatte, ob er sich darüber im klaren war, wie nahe er der Schlinge des Henkers und seinem eigenen letzten Schmerz war. Rasten seine Gedanken? Trieb ihm seine Phantasie den kalten Schweiß auf die Haut? Oder glaubte er, so etwas könne ihm nicht passieren? War es die Unschuld, die ihn gegen die Gefahr wappnete?
Was war wirklich zwischen ihm und Prudence passiert? Rathbone ging in seinem Versuch, sie als Frau voller Phantasien und romantischer Hirngespinste hinzustellen, sehr weit, aber er sah die Gesichter der Geschworenen und spürte die Welle von Abneigung, wann immer er sie herabsetzte; und so wagte er nicht, über Andeutungen hinauszugehen, er mußte sich darauf beschränken, den Gedanken in ihnen reifen zu lassen. Immer wieder fielen
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