Im Schatten der Gerechtigkeit
ihm Henrys Worte ein: Trau deinem Glauben.
Nur mit Monk hätte er nicht streiten sollen. Da hatte er sich gehenlassen. Er brauchte ihn dringender denn je. Die einzige Möglichkeit, Sir Herbert vor dem Galgen zu retten, und vor allem seinen Ruf, bestand darin, herauszufinden, wer Prudence Barrymore umgebracht hatte. Selbst das Schlupfloch, unter den Geschworenen für einen begründeten Zweifel zu sorgen, wurde immer kleiner. Einmal, als er zum Kreuzverhör aufgestanden war, hatte er den panischen Unterton in seiner Stimme gehört, und er war schweißgebadet: Lovat-Smith konnte das nicht entgangen sein. Er wußte, er würde gewinnen – wie ein Hund auf der Jagd den Tod der Beute wittert.
Der dritte Tag verlief besser. Lovat-Smith machte seinen ersten taktischen Fehler. Er rief Mrs. Barrymore in den Zeugenstand, damit sie über Prudence’ makellose moralische Haltung aussagte. Vermutlich hatte er beabsichtigt, die Sympathien für Prudence noch zu steigern. Mrs. Barrymore war eine trauernde Mutter, es war also ganz natürlich, und in seiner Lage hätte Rathbone mit einiger Sicherheit dasselbe getan. Soviel gestand er sich ein.
Trotzdem erwies es sich als Fehler.
Lovat-Smith ging sie mit Ehrerbietung und Sympathie an, ohne jedoch etwas von der großspurigen Haltung des Vortags abgelegt zu haben. Er war am Gewinnen, und er wußte es. Um so schöner, wenn es gegen Oliver Rathbone war.
»Mrs. Barrymore«, begann er mit einer leichten Neigung des Kopfes. »Ich bedaure, Sie um diese Zeugenaussage bitten zu müssen, da das hier schmerzlich sein muß für Sie, aber ich bin sicher, Sie sind nicht weniger erpicht darauf als wir alle hier, daß der Gerechtigkeit Genüge getan wird.«
Sie sah müde aus, und ihre helle Haut war um die Augen herum geschwollen, aber sie hatte sich völlig im Griff. Sie war ganz in Schwarz, was gut zu ihrem hellen Teint und den feinen Zügen paßte. »Selbstverständlich«, pflichtete sie ihm bei. »Ich werde mein Bestes tun, Ihre Fragen ehrlich zu beantworten.«
»Da bin ich sicher«, sagte Lovat-Smith. Als er die Ungeduld des Richters spürte, fing er an. »Natürlich haben Sie Prudence ihr ganzes Leben lang gekannt, wahrscheinlich besser als jeder andere. War sie ein romantisches, verträumtes Mädchen, das sich des öfteren verliebte?«
»Überhaupt nicht«, sagte sie mit großen Augen. »Ganz im Gegenteil. Ihre Schwester Faith las Romane und träumte davon, eine Heldin zu sein. Sie träumte von hübschen jungen Männern wie die meisten Mädchen. Prudence war ganz anders. Sie konzentrierte sich auf ihre Studien und schien immer noch mehr lernen zu wollen. Keine gesunde Haltung für ein junges Mädchen.« Sie machte einen verwirrten Eindruck, als gebe ihr diese Anomalie nach wie vor Rätsel auf.
»Aber sie wird doch als Mädchen für jemanden geschwärmt haben?« drängte sie Lovat-Smith. »Eine Art Heldenverehrung, wenn Sie so wollen, für den einen oder anderen jungen Mann?« Aber das Wissen stand ihr ebenso deutlich ins Gesicht geschrieben wie ihre Antwort; ihr entschiedener Ton unterstrich das Ganze noch.
»Nein«, sagte sie beharrlich. »Nicht ein einziges Mal. Noch nicht einmal unser neuer Hilfsgeistlicher, der sehr charmant war und die jungen Mädchen des ganzen Kirchspiels anzog, interessierte Prudence auch nur im geringsten.« Sie schüttelte den Kopf, so daß sich die schwarzen Bänder ihres Huts bewegten. Die Geschworenen hörten ihr aufmerksam zu; sie waren sich nicht sicher, wieviel sie glauben oder was sie fühlen sollten und diese Mischung aus Konzentration und Zweifel war ihnen deutlich anzusehen.
Rathbone warf rasch einen Blick auf Sir Herbert. Merkwürdigerweise schien den das nicht sonderlich zu interessieren, als gingen ihn Prudence’ Mädchenjahre nichts an. Verstand er denn nicht deren Gefühlswert und den Einfluß auf das Bild, das die Geschworenen sich von Prudence’ Charakter machten? War ihm denn nicht klar, wieviel davon abhing, welche Art Frau sie gewesen war: eine desillusionierte Träumerin, eine Idealistin, eine edle und leidenschaftliche Frau, der man unrecht getan hatte, oder eine Erpresserin?
»War sie denn eine leidenschaftslose Frau?« fragte Lovat-Smith mit künstlicher Überraschung.
»O nein, nein, sie war ausgesprochen gefühlsbetont!« versicherte Mrs. Barrymore ihm. »Ausgesprochen. So sehr, daß ich schon fürchtete, sie könnte krank werden.« Sie blinzelte einige Male und hatte große Schwierigkeiten, sich wieder unter Kontrolle zu
Weitere Kostenlose Bücher