Im Schatten der Gerechtigkeit
wandte sich an Lovat-Smith. »Ich muß dem beipflichten, Mr. Lovat-Smith. Das hier ist Zeitverschwendung. Wenn Sie die Zeugin ins Kreuzverhör nehmen wollen, bitte. Andernfalls erlauben Sie der Verteidigung fortzufahren.«
Lovat-Smith lächelte. Diesmal mit aufrichtigem Vergnügen.
»Oh, es ist relevant, Euer Ehren. Es steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den letzten Fragen meines sehr verehrten Kollegen zum Charakter von Mrs. Barbers Schwester und der extremen Unwahrscheinlichkeit, sie könnte ihre Zuflucht in einer Erpressung gesucht haben.« Sein Lächeln wurde noch breiter. »Oder nicht?«
»Dann kommen Sie zur Sache, Mr. Lovat-Smith«, wies Hardie ihn an.
»Ja, Euer Ehren.«
Rathbone verließ der Mut. Er wußte, was Lovat-Smith vorhatte.
Und er irrte sich nicht. Lovat-Smith sah wieder zu Faith Barber hinauf. »Mrs. Barber, Ihre Schwester muß doch wohl eine Frau gewesen sein, die in der Lage war, große Hindernisse zu überwinden und Einwände anderer zu mißachten. Es hat ganz den Anschein, als hätte nichts, aber auch gar nichts sie von etwas abhalten können, wovon sie leidenschaftlich begeistert war und das sie sich von ganzem Herzen wünschte.«
Die Leute im Saal schnappten nach Luft. Jemand zerbrach einen Bleistift.
Faith Barber war blaß. Jetzt verstand auch sie, worauf er hinauswollte. »Ja, aber… «
»Ein ›ja‹ genügt völlig«, unterbrach sie Lovat-Smith. »Und Ihre Mutter, hat sie dieses Abenteuer für gutgeheißen? Machte Sie sich keine Sorgen um ihre Sicherheit? Es muß doch nur so gewimmelt haben vor Gefahren für Leib und Leben: ein Unfall zur See, eine Verletzung durch die Ladung, durch Pferde, ganz zu schweigen von all den Soldaten, die von ihren Frauen getrennt waren und in eine Schlacht zogen, aus der sie womöglich nicht mehr zurückkamen? Und dabei hatte sie die Krim noch nicht einmal erreicht!«
»Es ist nicht notwendigerweise…«
»Ich spreche nicht von der Realität, Mrs. Barber!« unterbrach sie Lovat-Smith. »Ich spreche von der Vorstellung, die Ihre Mutter von dieser Realität hatte! Hat sie sich keine Sorgen um Prudence gemacht? Sie muß doch Todesängste um sie ausgestanden haben?«
»Sie hatte Angst – ja.«
»Und hatte sie nicht auch Angst vor dem, was ihr in der Nähe des Schlachtfelds widerfahren konnte – oder im Lazarett selbst? Was, wenn die Russen gewonnen hätten? Was wäre dann aus Prudence geworden?«
Der Anflug eines Lächelns stahl sich auf Faith Barbers Gesicht. »Ich glaube nicht, daß Mama je an die Möglichkeit gedacht hat, die Russen könnten gewinnen«, sagte sie ruhig.
»Mama hält uns für unbesiegbar.«
Ein belustigtes Raunen ging durch den Saal, selbst Hardie reagierte mit einem Lächeln, aber es erstarb sofort wieder.
Lovat-Smith biß sich auf die Lippe. »Möglicherweise«, sagte er mit einem kleinen Kopfschütteln. »Möglicherweise. Ein netter Gedanke, aber nicht besonders realistisch.«
»Sie haben nach ihren Gefühlen gefragt, Sir, nicht nach der Realität.«
Ein weiteres Kichern.
»Nichtsdestoweniger«, nahm Lovat-Smith den Faden wieder auf, »machte sich Ihre Mutter nicht große Sorgen um sie, hatte sie keine Angst?«
»Doch.«
»Und Sie selbst? Hatten Sie nicht auch schreckliche Angst um sie? Lagen Sie nicht nachts wach und stellten sich vor, was ihr zustoßen könnte? Quälte Sie nicht die Furcht vor dem Unbekannten?«
»Doch.«
»Und Ihre Nöte haben sie nicht davon abgehalten?«
»Nein«, sagte sie zum erstenmal mit einem entschiedenen Zögern in der Stimme. Lovat-Smith machte große Augen. »Also konnten sie weder physische Hindernisse noch persönliche Gefahren – extreme Gefahren! –, weder offizielle Einwände und Schwierigkeiten noch die Ängste, Sorgen oder der Schmerz ihrer Familie davon abhalten? Es hat doch ganz den Anschein, als wäre sie ziemlich rücksichtslos gewesen, oder nicht?«
Faith Barber zögerte.
Das Publikum wurde nervös, eine unzufriedene Unruhe stellte sich ein.
»Mrs. Barber?« drängte sie Lovat-Smith.
»Ich mag das Wort rücksichtslos nicht.«
»Es ist nicht immer eine attraktive Eigenschaft, Mrs. Barber«, pflichtete er ihr bei. »Und dieselbe Kraft, derselbe Eifer, der sie aller Widerstände zum Trotz auf die Krim geführt und sie inmitten des schrecklichen Blutbads hat überleben lassen, Tag für Tag den Tod guter, tapferer Männer vor Augen, konnte in Friedenszeiten zu etwas werden, was nicht so leicht zu verstehen oder zu bewundern ist.«
»Aber ich…
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