Im Schatten der Gerechtigkeit
noch einer, der sich der Gefühle und Tagträume junger Frauen bewußt wäre?«
Sie lächelte etwas wehmütig und warf einen Blick hinauf zur Anklagebank, als wäre sie unschlüssig; die Entschuldigung war ihr am Gesicht abzulesen. »Nein, Sir, ich fürchte, das ist er nicht.«
Ein Schatten der Erleichterung, ja fast der Befriedigung huschte über Sir Herberts Gesicht. Es war ein Ausdruck voll komplexer Gefühle, und die Jury nahm ihn beifällig zur Kenntnis.
»Ich danke Ihnen, Lady Stanhope«, sagte Rathbone voll Zuversicht. »Ich danke Ihnen vielmals. Das wäre alles.« Rathbones letzte Zeugin war Faith Barber, Prudence Barrymores Schwester, die diesmal von der Verteidigung aufgerufen wurde. Als er das erste Mal mit ihr gesprochen hatte, war sie von Sir Herberts Schuld restlos überzeugt gewesen. Er hatte ihre Schwester ermordet, und in ihren Augen war das ein Verbrechen, das nicht zu vergeben war. Aber Rathbone hatte sich inzwischen ausführlich mit ihr unterhalten, und sie hatte schließlich einige entscheidende Zugeständnisse gemacht. Sie war sich noch immer nicht sicher, und sie empfand keinerlei Barmherzigkeit für Sir Herbert; aber in einem Punkt war sie eisern, und so hatte er das Gefühl, es riskieren zu können, was auch immer sie sonst noch sagen mochte.
Hocherhobenen Hauptes trat sie in den Zeugenstand, das Gesicht blaß und von Kummer gezeichnet. Aber auch ihr Zorn war nicht zu übersehen.
»Mrs. Barber«, begann Rathbone deutlich und sehr höflich.
»Ich weiß, Sie sind, wenigstens zum Teil, gegen Ihren Willen hier. Ich muß Sie jedoch darum bitten, so fair wie möglich zu sein und nur auf das zu antworten, wonach ich Sie frage. Ich bitte Sie um die Integrität, die Sie und Ihre Schwester sicher gemeinsam haben. Äußern Sie hier weder eigene Meinungen noch Gefühle. Diese können zu einer solchen Zeit nur tief und schmerzhaft sein. Sie haben unser vollstes Mitgefühl, aber dies gilt auch für Lady Stanhope und ihre Familie und all die anderen Leute, die von dieser Tragödie berührt werden.«
»Ich verstehe Sie, Mr. Rathbone«, antwortete sie steif. »Ich werde nichts aus reiner Böswilligkeit sagen, das schwöre ich Ihnen.«
»Ich danke Ihnen. Wenn Sie sich jetzt bitte die Wertschätzung Ihrer Schwester für Sir Herbert vor Augen halten wollen und dazu, was Sie über den Charakter Ihrer Schwester wissen. Eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher Zeugen, die sie unter den unterschiedlichsten Umständen kannten, haben uns das Bild einer mitfühlenden und integren Frau gezeichnet. Von niemandem haben wir gehört, daß sie auch nur ein einziges Mal grausam oder selbstsüchtig gehandelt hätte. Hört sich das nach der Schwester an, die Sie gekannt haben?«
»Gewiß«, stimmte Faith ihm ohne Zögern zu.
»Eine hervorragende Frau also?« fügte Rathbone hinzu.
»Ja.«
»Ohne Fehler?« Er hob die Brauen.
»Nein, selbstverständlich nicht.« Sie verwarf den Gedanken mit dem Hauch eines Lächelns. »Keiner von uns ist ohne Fehler.«
»Ich bin sicher, Sie können uns, ohne illoyal zu sein, ganz allgemein sagen, auf welchem Gebiet ihre Fehler lagen?«
Lovat-Smith kam auf die Beine. »Also wirklich, Euer Ehren, das ist wohl kaum aufschlußreich, von der Relevanz ganz zu schweigen. Gewähren wir der armen Frau angesichts der Umstände ihres Ablebens doch soviel Frieden wie möglich!«
Hardie sah Rathbone an. »Ist Ihre Frage so sinn und geschmacklos, wie es den Anschein hat, Mr. Rathbone?« sagte er.
»Nein, Euer Ehren«, versicherte Rathbone ihm. »Ich habe einen ganz bestimmten Grund dafür, Mrs. Barber diese Frage zu stellen. Die Anklage der Staatsanwaltschaft gegen Sir Herbert fußt auf bestimmten Annahmen über Miss Barrymores Charakter. Ich brauche einen gewissen Spielraum, um diese auszuloten, will ich Sir Herbert fair verteidigen.«
»Dann kommen Sie bitte zur Sache, Mr. Rathbone«, wies Hardie ihn an.
Rathbone wandte sich wieder dem Zeugenstand zu. »Mrs. Barber?«
Sie atmete tief ein. »Sie war zuweilen etwas brüsk. Sie konnte Dummköpfe nicht ertragen, und da sie von außergewöhnlicher Intelligenz war, gehörten für sie eine ganze Menge Leute in diese Kategorie. Wollen Sie noch mehr hören?«
»Wenn es noch mehr gibt?«
»Sie war sehr tapfer, sowohl physisch als auch moralisch. Sie hatte keine Zeit für Feiglinge. Sie konnte da in ihrem Urteil sehr schnell sein.«
»Und sie war ehrgeizig?«
»Ich sehe darin keinen Fehler.«
»Ich ebensowenig, Madam. Es war nur eine Frage. War
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