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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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pflichtete er ihr bei. »Um genau zu sein, es stellt sogar ein großes gesundheitliches Risiko für sie dar. Alles hat seine Grenzen…« Er wandte den Blick ab und fügte dann sehr leise hinzu: »Ich glaube, wenn sie wüßte, wie man gewisse Schritte…«
    »Könnte sie sich denn eine… eine Hilfe leisten?« erkundigte sich die Frau nicht weniger leise.
    Er wandte sich ihr wieder zu. »O ja… wenn es sich in vernünftigem Rahmen bewegt.«
    Die Frau verschwand und kehrte einige Augenblicke später mit einem Zettel zurück, den sie mehrmals gefaltet hatte, damit er nicht zu lesen war. »Geben Sie ihr das«, sagte sie.
    »Ich danke Ihnen. Das werde ich.« Er zögerte.
    Sie lächelte. »Sie sollen ihr sagen, wer Ihnen die Adresse gegeben hat. Das genügt vollauf.«
    »Ich verstehe. Ich danke Ihnen.«
    Bevor er sich an die Adresse in einer der Gassen hinter der Whitechapel Road wandte, ging er erst eine Weile spazieren. Er wollte sich die Geschichte zurechtlegen, die er dort vorbrachte. Ihm kam der Gedanke, Hester als die betreffende hilfsbedürftige Dame vorzustellen, was er irgendwie komisch fand. Er hätte es zu gern getan, aber sie war im Krankenhaus mit Wichtigerem beschäftigt. Jedenfalls konnte er nicht länger vorgeben, für seine Schwester zu kommen. Der Abtreiber würde die Frau selbst erwarten; so etwas mußte schließlich arrangiert werden. Der einzige Fall, in dem er akzeptieren würde, daß ein Mann die Erkundigungen einzog, wäre, wenn die Frau noch zu jung wäre, um öfter als zum entscheidenden Mal selbst zu kommen – oder zu hochgestellt, und das Risiko, gesehen zu werden, wäre zu groß. Ja, das war eine ausgezeichnete Idee! Er würde behaupten, sich im Namen einer Dame von Stand zu erkundigen, die sich nicht festlegen wolle, bevor man ihr nicht absolute Diskretion garantieren könne.
    Er rief eine Droschke und wies den Kutscher an, ihn in die Whitechapel Road zu fahren; dann lehnte er sich zurück und übte.
    Es war eine lange Fahrt. Das Pferd war müde; der Kutscher ein verdrießlicher Kerl.
    In der Whitechapel Road stieg Monk aus und bezahlte den Fahrer. Dann machte er sich auf den Weg zu der Adresse, die man ihm in dem Hutgeschäft gegeben hatte.
    Zuerst dachte er, sich geirrt zu haben. Es handelte sich um eine Fleischerei. Im Fenster reihten sich Hackbraten und Würste. Wenn er hier richtig war, hatte jemand einen sehr makabren Humor – oder überhaupt keinen.
    Monk zögerte einen Augenblick und betrat dann den Laden. Die Luft war zum Schneiden dick, es roch ranzig und schal. Eine große Fliege summte träge; als sie sich auf der Theke niederließ, nahm eine junge Frau, die offensichtlich auf Kundschaft wartete, eine alte Zeitung und schlug zu; die Fliege war auf der Stelle tot.
    »Hab ich dich!« sagte sie befriedigt. »Was kann ich für Sie tun?« fragte sie Monk bester Laune. »Wir haben frischen Hammel, Hase, Schweinehaxen, eingelegte Kalbsknöchel, Preßkopf, den besten im ganzen East End, Schafshirn, Schweineleber und natürlich Würste! Also, was soll's denn sein?«
    »Die Würste sehen gut aus«, log er. »Aber eigentlich wollte ich Mrs. Anderson sprechen. Bin ich da richtig?«
    »Hängt ganz davon ab«, sagte sie vorsichtig. »Mrs. Andersons gibt’s eine ganze Menge. Was wollen Sie denn von ihr?«
    »Eine Dame, die Hüte verkauft, hat sie mir empfohlen…«
    »Was Sie nicht sagen!« Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß.
    »Kann mir nicht vorstellen, wieso.«
    »Für eine Bekannte von mir, eine Dame, die sich lieber nicht in dieser Gegend sehen lassen möchte, bevor es nicht absolut notwendig ist.«
    »Dann hat die Sie also geschickt?« Sie lächelte mit einer Mischung aus Genugtuung, Belustigung und Verachtung. »Tja, vielleicht redet sie mit Ihnen, Mrs. Anderson, vielleicht auch nicht. Ich wird’ sie mal fragen.« Worauf sie sich abwandte und den Raum durch eine Tür verließ, von der die Farbe abblätterte.
    Monk wartete. Eine weitere Fliege stellte sich ein und summte träge, bevor sie sich auf dem blutbefleckten Ladentisch niederließ.
    Die Frau kam zurück und hielt ihm wortlos die Tür auf. Monk kam der Aufforderung nach und trat ein. Der Raum dahinter war eine große Küche, die auf einen Hof voller Kohleneimer, überquellender Mülltonnen und zerbrochener Kisten hinausführte; in einem rissigen Ausguß stand das Regenwasser bis an den Rand. Ein Kater mit dem Körper eines Leoparden schlich durch den Hof, eine tote Ratte im Maul.
    In der Küche selbst herrschte Chaos.

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