Im Schatten der Gerechtigkeit
Blutverschmierte Tücher lagen in einem steinernen Ausguß rechts an der Wand, dicker, warmer Blutgeruch hing in der Luft. Auf einer Kommode stand eine unordentliche Ansammlung von Tellern, Schüsseln, Messern, Scheren und Spießen. Gleich mehrere Flaschen Gin standen herum, einige bereits geöffnet.
In der Mitte des Raums stand ein hölzerner Tisch, dunkel von Blut. In den Ritzen, wo es getrocknet war, sorgte es für schwarze Linien; der Boden war mit Spritzern übersät. In einem Schaukelstuhl saß, die Arme um den Körper geschlungen, ein Mädchen mit aschfahlem Gesicht und weinte.
Mrs. Anderson war eine gewichtige Frau. Die hochgekrempelten Ärmel gaben den Blick auf ungeheure Unterarme frei, ihre Fingernägel waren rissig und schwarz.
»Tach«, sagte sie gut aufgelegt, und wischte sich das goldblonde Haar aus den Augen. Sie konnte kaum älter als fünfunddreißig sein. »Brauchen wir wohl ’n bißchen Hilfe, was, mein Guter? Tja also, für Sie kann ich nichts tun, nicht? Da muß sie schon selber kommen, früher oder später. Wie weit is’ sie denn?«
»Im vierten Monat«, platzte Monk heraus.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Hamse sich aber ganz schön Zeit gelassen, was? Na ja… ich nehm’ an, irgendwas läßt sich schon machen. Wird natürlich gefährlich so was, aber ich nehm’ an, es zu kriegen war’ noch schlimmer.«
Das Mädchen auf dem Stuhl wimmerte leise. Monk nahm sich zusammen. Er durfte sich hier nicht gehenlassen. Er hatte schließlich einen besonderen Grund für seine Anwesenheit.
Seinen Gefühlen nachzugeben würde weder etwas ändern, noch zu Herbert Stanhopes Verurteilung beitragen.
»Hier?« fragte er, obwohl er die Antwort kannte.
»Nein – draußen auf der Straße!« meinte sie sarkastisch.
»Natürlich hier drin, Sie Döskopp! Wo meinen denn Sie? Ich mach’ keine Hausbesuche! Wennse’s mit Rüschen wollen, dann müssense zusehen, ob Sie nich einen Arzt bestechen können – obwohl ich keine Ahnung hab’, wo Sie so einen finden.«
»Werde ich eben versuchen müssen, einen aufzutreiben«, sagte Monk.
»Ganz wie Sie meinen«, antwortete die Frau, offensichtlich ohne ihm böse zu sein. »Aber danken wird Ihre Freundin Ihnen das kaum, wenn Sie es in der ganzen Stadt rumposaunen. Ist ja schließlich der Zweck der Übung, daß keiner was erfährt, mein’ Se nich?«
»Ich werde diskret sein«, antwortete Monk, der sich plötzlich nichts sehnlicher wünschte, als wegzukommen. Sogar die Wände schienen hier so schmerzgetränkt wie die Laken und der Tisch rot vom Blut. Selbst die Whitechapel Road mit ihrer Armut und ihrem Schmutz wäre besser als das hier. Der Geruch würgte ihn, kroch ihm dick in die Nase und war im Rachen zu schmecken. »Ich danke Ihnen.« Es war lächerlich und lediglich eine Art, die Begegnung zu beenden. Er wandte sich auf dem Absatz um, riß die Tür auf und ging durch den Fleischerladen nach draußen, wo er erst einmal kräftig Luft holte.
Er würde weitersuchen, aber zuerst mußte er diese Gegend hinter sich bringen. Es hatte keinen Zweck, sich weiter bei Hinterhofabtreibern umzusehen. Gott sei’s gedankt. Nie und nimmer hätte Stanhope sein Geschäft solchen Leuten anvertraut: Die hätten ihn im Handumdrehen verpfiffen, nahm er ihnen doch die beste Kundschaft weg. Er wäre ein Narr, sein Leben in ihre Hände zu legen. Allein die Möglichkeit, ihn um die Hälfte seiner Einnahmen zu erpressen, war zu gut, um sie sich entgehen zu lassen – die Hälfte oder noch mehr! Nein, da mußte er schon in einer besseren Gesellschaft suchen; falls er dahinterkam, wie er das anstellen sollte.
Für Fingerspitzengefühl war keine Zeit mehr. Womöglich hatten sie nur noch einen Tag, höchstens zwei.
Callandra! Vielleicht wußte sie etwas. Zwar würde er ihr sagen müssen, daß Sir Herbert schuldig war und wie sie das erfahren hatten, aber er hatte weder Zeit noch Gelegenheit, Rathbone um Erlaubnis zu bitten. Er hatte es Monk anvertraut, da dieser in diesem Fall für ihn tätig und damit ebenfalls durch die Schweigepflicht gebunden war. Callandra dagegen nicht. Aber das war eine Spitzfindigkeit, um die sich Monk im Augenblick den Teufel scherte. Sir Herbert konnte sich ja auf der Treppe zum Galgen beschweren!
Es war bereits spät, sechs Uhr abends, als Monk seine Nachricht überbrachte.
Callandra war entsetzt, als er ihr alles erzählte. Schließlich war er mit dem bißchen Rat, den sie ihm hatte geben können, wieder gegangen. Er war ganz blaß gewesen, und seine
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