Im Schatten der Gerechtigkeit
Miene hatte ihr angst gemacht. Jetzt war sie wieder allein in ihrem komfortablen Zimmer, das vom Licht der schwindenden Sonne erleuchtet war. Das finstere Wissen lastete schwer auf ihr. Noch eine Woche zuvor wäre ihr das Herz im Leibe zersprungen vor Freude, daß Kristian mit Prudence’ Tod nichts zu tun hatte. Jetzt konnte sie an nichts anderes mehr denken, als daß Sir Herbert mit einiger Sicherheit frei ausging. Aber was sie noch mehr bedrückte, war der Schmerz, der Lady Stanhope drohte, der neue Kummer, dem sie sich würde stellen müssen. Ob sie je erfahren würde, daß Sir Herbert schuldig war, darüber konnte Callandra nur Vermutungen anstellen. Wahrscheinlich nicht. Aber jemand mußte ihr sagen, daß ihr Ältester der Vater von Victorias abgetriebener Leibesfrucht war. Bei Inzucht blieb es nur selten bei einem einmaligen Versuch. Ihre anderen Töchter waren der Gefahr ausgesetzt, Opfer derselben Tragödie und damit ebenfalls zu Krüppeln zu werden.
Es gab keine Möglichkeit, diese Mitteilung zu beschönigen, jedenfalls wollte Callandra nichts einfallen, was sie erträglicher gemacht hätte. Es hatte keinen Sinn, hier in ihrem weichen Sessel zu sitzen, umgeben von blumengefüllten Vasen, Büchern und Kissen, die Katze faul in der Sonne und der Hund mit einem hoffnungsvollen Auge auf ihr, für den Fall, daß sie sich zu einem Spaziergang entschloß.
Sie stand auf und ging in den Flur, wo sie nach Butler und Hausdiener rief. Sie würde zu Lady Stanhope fahren. Es war zwar eine unpassende Zeit für einen Besuch, abgesehen davon, daß es kaum wahrscheinlich war, daß Lady Stanhope unter diesen Umständen überhaupt jemanden empfing, aber sie war bereit, falls nötig, darauf zu bestehen. Sie trug ein altmodisches schlichtes Nachmittagskleid, aber sich umzuziehen kam ihr noch nicht einmal in den Sinn.
Während der Fahrt war sie tief in Gedanken und erschrak richtiggehend, als man ihr sagte, sie sei schon da. Sie wies den Kutscher an zu warten, stieg ohne Hilfe aus und ging geradewegs auf die Haustür zu. Das Haus war hübsch, diskret und zeugte von großem Wohlstand. Sie bemerkte das nur nebenbei, mußte aber mit einiger Bitterkeit daran denken, daß Sir Herbert das alles behalten würde, auch wenn sein Ruf etwas angekratzt wäre. Und die Tatsache, daß sein Privatleben darunter leiden würde, konnte ihr keine Genugtuung sein. Ihre Gedanken galten allein dem Schmerz, den sie seiner Frau würde zufügen müssen.
Sie klingelte, worauf ihr ein Diener öffnete.
»Die gnädige Frau wünschen?« fragte er argwöhnisch.
»Lady Callandra Daviot«, sagte Callandra energisch und reichte ihm ihre Karte. »Ich muß Lady Stanhope sprechen. In einer äußerst dringenden Angelegenheit, die bedauerlicherweise nicht bis zu einem günstigeren Zeitpunkt warten kann. Würden Sie ihr sagen, daß ich hier bin.« Letzteres war keine Frage, sondern ein Befehl.
»Gewiß, Madam«, antwortete er steif und nahm die Karte, ohne einen Blick darauf zu werfen. »Aber Lady Stanhope empfängt im Augenblick nicht.«
»Es handelt sich nicht um einen privaten Besuch«, antwortete Callandra. »Es handelt sich um einen medizinischen Notfall.«
»Ist… ist Sir Herbert krank?« Der Mann wurde blaß.
»Nicht daß ich wüßte.«
Er zögerte. Dann trafen sich ihre Blicke, irgend etwas in ihm spürte eine Autorität, Willenskraft, der nicht zu widerstehen war. »Sehr wohl, gnädige Frau. Wenn Sie so freundlich wären, im Damenzimmer zu warten.« Er öffnete die Tür weiter, um sie ins Haus zu lassen und wies sie in einen nüchternen Raum, in dem es derzeit keine Blumen gab; seine Unbenutztheit verlieh ihm eine freudlose Atmosphäre. Man hätte meinen können, das Haus sei in Trauer.
Philomena Stanhope kam nach nur wenigen Augenblicken; sie sah spitz und besorgt aus. So wie sie Callandra ansah, schien sie sie offensichtlich nicht wiederzuerkennen.
»Lady Callandra?« sagte Philomena fragend. »Mein Bediensteter sagt mir, Sie hätten eine Nachricht für mich.«
»Ich fürchte, das habe ich. Ich bedaure das, aber es könnte zu einer weiteren Tragödie kommen, wenn Sie es nicht erfahren.«
Philomena setzte sich nicht, wurde aber noch etwas blasser.
»Worum geht es? Was ist passiert?« fragte sie.
»Das ist nicht so einfach zu sagen«, antwortete Callandra.
»Und ich zöge es vor, das im Sitzen zu tun.« Sie wollte schon hinzufügen, daß es dann einfacher wäre, aber schon die Worte an sich waren absurd. Nichts würde das hier einfacher
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