Im Schatten der Gerechtigkeit
unmöglich. Wenn Sie ihr das nicht erklären wollen, dann tue ich es eben.«
»Und damit ist der Ehre genüge getan?« sagte er trocken.
»Wenn Sie so wollen.« Sie war noch immer wütend. »Lieben Sie ihn denn?« fragte er sie leise. Ihr zorniger Ausdruck wich dem Schock. »Was?«
»Lieben Sie ihn?« wiederholte er. »Wen? Was reden Sie da? Wen soll ich lieben?«
»Audley.«
Sie starrte ihn an wie hypnotisiert, ihre Augen schwarz vor Schmerz und einem tiefen Gefühl, das er für Entsetzen hielt.
»Hat er Sie gezwungen?« fuhr er fort.
»Nein!« schnappte sie. »Sie liegen völlig falsch! Es war nicht Audley! Wie können Sie so etwas Schreckliches sagen – wie können Sie es wagen? Er ist der Mann meiner Schwester!« Aber ihrer Stimme fehlte die Überzeugung; sosehr sie ihre Entrüstung aufrechtzuerhalten versuchte, sie schwankte.
»Gerade weil er der Mann Ihrer Schwester ist, kann ich mir nicht vorstellen, daß Sie sich ihm freiwillig hingegeben haben«, sagte er beharrlich und verspürte dabei tiefstes Mitgefühl für ihre Notlage. Was ihm deutlich anzuhören war.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Es war nicht Audley«, sagte sie, aber diesmal war es nur ein nicht sehr überzeugendes Flüstern, und auch der Zorn war verschwunden. Es war lediglich ein Protest um Julias willen, und noch nicht einmal sie erwartete, daß er ihr glaubte.
»O doch«, sagte er schlicht.
»Ich werde es leugnen.« Auch das nichts weiter als die Erklärung einer Tatsache.
Er hatte nicht den geringsten Zweifel daran, aber sie schien sich nicht sicher, ihn überzeugt zu haben. »Bitte, Mr. Monk! Sagen Sie nichts«, flehte sie ihn an. »Er würde es bestreiten, und ich stünde da, als wäre ich nicht nur unmoralisch, sondern von Grund auf verderbt. Audley hat mir ein Zuhause gegeben und sich seit seiner Heirat mit Julia um mich gekümmert. Niemand würde mir glauben. Alle würden mich für undankbar und pflichtvergessen halten.« Jetzt hörte er ihre Angst, und sie war stärker als die physische Angst oder der Abscheu vor dem Übergriff. Würde man sie mit diesem Vorwurf brandmarken, so hätte sie nicht nur bald kein Dach mehr über dem Kopf, sie hätte auch keine Aussichten auf eine Heirat. Kein respektabler Mann würde eine Frau heiraten, die sich erst – wie zögernd auch immer – einen Liebhaber nahm und dann auch noch dem Gatten ihrer Schwester einen so schrecklichen Vorwurf machte, einem Mann, der ihr gegenüber so großzügig gewesen war.
»Was also soll ich Ihrer Schwester sagen?« fragte er sie.
»Nichts! Sagen Sie ihr, Sie können nichts in Erfahrung bringen. Sagen Sie ihr, es war ein Fremder, der irgendwie hereingekommen und längst wieder verschwunden ist.« Sie griff impulsiv nach seinem Arm. »Bitte, Mr. Monk!« Ein Schrei aus tiefster Not. »Denken Sie nur, was das für Julia bedeuten würde! Das wäre das Schlimmste von allem! Ich könnte es nicht ertragen. Da wäre es mir noch lieber, Audley nennt mich eine ehrlose Frau und setzt mich auf die Straße.«
Sie hatte nicht einmal eine Ahnung davon, was das bedeuten würde: in Bordellen oder billigen Absteigen zu nächtigen, Hunger, Demütigungen, Krankheit und Angst. Sie hatte nichts gelernt, um sich ihren Unterhalt auf ehrliche Weise in einer Fabrik zu verdienen, achtzehn Stunden am Tag, selbst wenn Gesundheit und Nerven sie nicht im Stich ließen. Aber er glaubte ihr sofort, daß ihr das alles lieber wäre, als daß Julia die Wahrheit erfuhr.
»Ich werde ihr nicht sagen, daß es Audley war«, versprach er.
»Sie brauchen keine Angst zu haben.«
Tränen quollen ihr aus den Augen. Sie schluckte und zog die Nase hoch.
»Ich danke Ihnen. Vielen Dank, Mr. Monk.« Sie fischte nach einem Taschentuch, das gerade die Größe einer Hand hatte und zudem fast nur aus Spitze bestand. Es war nutzlos.
Er reichte ihr das seine, und sie nahm es schweigend, wischte sich die Tränen ab, zögerte, und schneuzte sich schließlich. Dann wußte sie nicht, ob sie es ihm wieder zurückgeben sollte oder nicht.
Er konnte nicht anders, er mußte lächeln. »Behalten Sie es«, bot er ihr an. »Danke.«
»Und nun gehe ich besser und erstatte Ihrer Schwester einen letzten Bericht.«
Sie nickte und schniefte wieder. »Sie wird enttäuscht sein, aber lassen Sie sich nicht von ihr überreden. Sosehr es sie auch ärgern mag, nichts zu wissen – es zu wissen wäre noch viel, viel schlimmer.«
»Sie bleiben besser hier.«
»Das werde ich.« Sie schluckte. »Und – danke, Mr.
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