Im Schatten der Gerechtigkeit
Krankheiten.«
»Aber beide passieren nun mal«, bemerkte Hester. »Und nicht selten Leuten, die wir gern haben, und wir können helfen. Was ausgesprochen Freude macht – wenigstens mir. Falls das bei Ihnen anders ist, so sollten Sie sich vielleicht nach einem anderen Beruf umsehen.«
Monk setzte sich. Er war erstaunlich müde, was völlig lächerlich war, da er kaum etwas getan hatte. »Ich hatte den ganzen Tag mit einer Tragödie zu tun, Hester. Ich bin nicht in Stimmung für triviale Sophistereien.«
»Das ist keine Sophisterei!« fauchte sie ihn an. »Sie versinken Ihrer Arbeit wegen in Selbstmitleid. Also habe ich darauf hingewiesen, daß sie auch ihre guten Seiten hat.«
»Ich versinke nicht in Selbstmitleid!« Er hob die Stimme trotz seines festen Entschlusses, es nicht zu tun. »Großer Gott! Ich habe Mitleid mit jedem in dieser Geschichte – außer mit mir. Ich wollte wirklich, Sie würden sich derlei vorschnelle Urteile verkneifen, wenn Sie keine Ahnung haben, worum es geht.«
Sie starrte ihn einen Augenblick wütend an, dann, als sie verstand, leuchtete ihr Gesicht amüsiert auf. »Sie wissen nicht mehr weiter! Sie sind völlig durcheinander – wenigstens für den Augenblick!«
Die einzige Antwort, die ihm darauf einfallen wollte, bestand aus Worten, die er in Callandras Gegenwart nie in den Mund nehmen würde.
Callandra antwortete für ihn und legte Hester eine Hand auf den Arm, um sie zu zügeln.
»Sie sollten sich das nicht so zu Herzen nehmen, mein Lieber«, mahnte sie Monk sanft. »Die Chance, herauszufinden, wer es war – falls es überhaupt jemand war, ich meine falls es sich tatsächlich um Notzucht handelt –, war von vornherein nicht sehr groß.«
Hester blickte von Callandra zu Monk, mischte sich aber nicht ein. »Es war eine Vergewaltigung«, sagte Monk ruhig. »Und ich weiß auch, wer es war; ich weiß nur nicht, was ich unternehmen soll.« Er ignorierte Hester, war sich jedoch der Veränderung ihrer Haltung sehr wohl bewußt: das Lachen war verschwunden, ihre Aufmerksamkeit plötzlich ungeteilt und aufrichtig.
»Weil Sie nicht wissen, was Mrs. Penrose mit dieser Information anfangen könnte?« fragte Callandra.
»Nein, eigentlich nicht.« Mit ernstem Blick musterte er ihr kluges, neugieriges Gesicht. »Wegen des Ruins und der Schmerzen, die sie bringt.«
»Dem Täter?« fragte Callandra. »Seiner Familie?« Monk lächelte. »Nein – und ja.«
»Können Sie darüber sprechen?« fragte ihn Hester; ihre Reibereien waren wie weggewischt, als hätte es nie welche gegeben. »Ich nehme an, Sie müssen zu einem Entschluß kommen, und das ist es, was Ihnen zu schaffen macht?«
»Ja, bis morgen früh.«
»Können Sie uns davon erzählen?«
Er zuckte kaum merklich mit den Achseln und lehnte sich in den Sessel zurück. Sie saß in dem, in dem er gern gesessen hätte, aber das spielte jetzt kaum noch eine Rolle. Sein Ärger war verflogen.
»Marianne lebt bei ihrer verheirateten Schwester, Julia, und deren Gatten, Audley Penrose. Sie behauptete, im Gartenhäuschen vergewaltigt worden zu sein, will aber den Betreffenden nicht gekannt haben.«
Keine von beiden, weder Hester noch Callandra, unterbrach ihn, und ihren Mienen war nicht anzusehen, was sie glaubten und was nicht.
»Ich habe die ganze Nachbarschaft befragt. Nicht einer hat einen Fremden gesehen.«
Callandra seufzte. »Audley Penrose?«
»Ja.«
»O Gott. Liebt sie ihn? Oder glaubt sie, verliebt zu sein?«
»Nein! Sie ist entsetzt – und ganz offensichtlich verletzt«, sagte er müde. »Sie würde sich lieber als unmoralische Frau auf die Straße setzen lassen, als Julia zu sagen, was wirklich passiert ist.«
Hester biß sich auf die Lippe. »Hat sie denn überhaupt eine Vorstellung, was das bedeuten würde?«
»Wahrscheinlich nicht«, antwortete er. »Aber das spielt keine Rolle. Julia würde das nie zulassen – denke ich jedenfalls. Aber Marianne will nicht, daß ich es ihr sage. Sie sagt, sie würde es bestreiten. Und Audley natürlich auch. Muß er ja. Ich habe keine Ahnung, was Julia glauben würde. Oder zu welcher Meinung sie sich nach außen hin glaubt bekennen zu müssen.«
»Das arme Ding«, sagte Hester mit aufflammender Leidenschaftlichkeit. »Was für ein gräßliches Dilemma. Was haben Sie ihr denn gesagt?«
»Daß sich nicht feststellen läßt, wer Marianne überfallen hat, und daß es mir lieber wäre, von dem Fall entbunden zu werden.«
Hester sah zu ihm hinüber; ihre Züge strahlten aufrichtigen
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