Im Schatten der Gerechtigkeit
und Hester sich eine Droschke zu ihren Wohnungen teilten, verlief das in freundschaftlichem Gespräch.
Selbstverständlich hielten sie zuerst bei Hesters Wohnung, einem ausgesprochen kargen Quartier, da sie häufig im Haus ihrer jeweiligen Patienten wohnte. Sie wohnte nur deshalb hier, weil ihre derzeitige Patientin so gut wie genesen war und sie nur noch jeden zweiten Tag brauchte; sie sah nicht ein, wieso sie eine Krankenschwester beherbergen und verköstigen sollte, für die sie kaum noch Verwendung hatte.
Monk stieg aus, öffnete den Wagenschlag und half ihr auf das Pflaster. Es lag ihm auf der Zunge, ihr zu sagen, wie schön es gewesen sei, sie zu sehen, aber er schluckte die Worte hinunter. Sie waren nicht nötig. Kleine Komplimente, so wahr sie auch sein mochten, waren Sache trivialerer Beziehungen, die sich lediglich an der Oberfläche hielten.
»Gute Nacht«, sagte er schlicht und ging mit ihr über die Steine zur Haustür.
»Gute Nacht, Monk«, antwortete sie mit einem Lächeln. »Ich werde morgen an Sie denken.«
Er erwiderte ihr Lächeln wehmütig; er wußte, sie meinte es ernst, und verspürte einen gewissen Trost bei dem Gedanken, in dieser Sache nicht allein dazustehen.
Hinter ihm auf der Straße stampfte das Pferd. Es gab nichts weiter zu sagen. Hester schloß auf, und Monk kehrte zurück zu der Droschke, die, noch bevor er wieder saß, die von Laternen beleuchtete Straße hinauffuhr.
Tags darauf fand er sich Viertel vor zehn wieder in der Hastings Street ein. Das Wetter war mild, aber es regnete leicht. Die Blumen im Garten waren mit Wasserperlen bedeckt, und irgendwo sang mit verblüffender Klarheit ein Vogel.
Monk hätte viel darum gegeben, sich einfach umdrehen und wieder nach Hause gehen zu können, der Nummer vierzehn keinen Besuch abstatten zu müssen.
Er zögerte jedoch weder auf der Treppe, noch wartete er, bevor er an der Klingelschnur zog. Es gab nichts mehr zu überlegen. Es gab nichts mehr zu debattieren, keine Argumente mehr, weder für die eine Seite, noch für die andere.
Das Dienstmädchen begrüßte ihn bereits mit einer gewissen Vertraulichkeit, war allerdings etwas verblüfft, als er nicht nach Mrs. Penrose fragte, sondern nach Miss Gillespie. Vermutlich hatte ihr Julia gesagt, sie erwarte ihn.
Er war allein im Damenzimmer und ging rastlos auf und ab, als Marianne hereinkam. Kaum sah sie ihn, wurde sie blaß.
»Was ist denn?« fragte sie rasch. »Ist etwas passiert?«
»Bevor ich gestern hier wegging«, antwortete er, »habe ich noch mit Ihrer Schwester gesprochen und ihr gesagt, ich könnte nicht in Erfahrung bringen, wer Sie überfallen hat und daß ich keinen Sinn darin sähe, die Sache weiter zu verfolgen. Sie wollte das nicht akzeptieren. Wenn ich es ihr nicht sage, wird sie jemand anderen engagieren, der es tut.«
»Aber wie sollte das jemand erfahren?« sagte sie verzweifelt.
»Ich würde es doch niemandem sagen! Keiner hat etwas gesehen, keiner hat etwas gehört!«
»Man wird es aus den Tatsachen schließen – genauso wie ich.« Er sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Sie machte einen völlig niedergeschmetterten Eindruck. »Es tut mir leid, Miss Gillespie… aber ich muß mein Versprechen Ihnen gegenüber zurücknehmen und Mrs. Penrose die Wahrheit sagen.«
»Das können Sie nicht!« Sie war entsetzt. »Sie haben es versprochen!« Aber noch während sie das sagte, wich der Ausdruck naiven Unwillens in ihrem Gesicht dem des Verstehens – und der Niederlage.
Er fühlte sich elend. Er hatte keine Alternative, er verriet sie und wußte nicht, was er statt dessen tun könnte.
»Es gibt dabei noch mehr zu bedenken…«
»Selbstverständlich gibt es noch mehr!« Zorn und Unglück machten ihre Stimme schneidend. »Das Schlimmste dabei ist, wie Julia es aufnehmen wird! Es wird sie vernichten. Wie sollen ihre Gefühle mir gegenüber je wieder normal werden, selbst wenn sie mir von ganzem Herzen glaubt, daß mir nichts ferner lag als das? Ich habe nichts, aber auch gar nichts getan, um ihn auf den Gedanken zu bringen, ihm jemals zu Willen zu sein, und das ist die Wahrheit, Mr. Monk! Ich schwöre es bei allem, was mir lieb und teuer ist…«
»Das weiß ich!« unterbrach er sie. »Davon spreche ich auch nicht.«
»Wovon dann?« fragte sie abrupt. »Was sonst könnte noch von Bedeutung sein?«
»Warum glauben Sie, daß es nicht noch einmal passieren wird?«
Ihr Gesicht war bleich. Sie hatte Schwierigkeiten zu schlucken. Sie wollte schon etwas
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