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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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haben, noch für seine Unhöflichkeit; nicht, daß sie dergleichen erwartet hätte.
    Wie er vorgeschlagen hatte, nahm sie sich eine Droschke und befahl dem Kutscher, sie zu Monks altem Revier zu fahren. Wahrscheinlich war es das, das am nächsten lag, aber vor allem war es das einzige, dessen Adresse sie wußte und von dem sie sicher sein konnte, dort einen leitenden Beamten mit dem nötigen Sinn für Diskretion zu finden. Sie benutzte ihren Titel, um sofort vorgelassen zu werden.
    »Lady Callandra.« Runcorn erhob sich, sobald man sie hereinführte. Er kam auf sie zu und streckte ihr eine Hand entgegen, um sie zu begrüßen, überlegte es sich dann jedoch anders und verbeugte sich statt dessen dezent. Er war ein großer Mann mit einem schmalen Gesicht, in gewisser Hinsicht fast gut aussehend, wären da nicht die zornigen Falten um den Mund gewesen. Dazu kam ein Mangel an Selbstsicherheit, den man bei einem Beamten seines Rangs nicht vermutet hätte. Man brauchte ihn nur anzusehen, um zu wissen, daß Monk und er unmöglich unbefangen miteinander umgehen könnten. Ihr Naturell, wie es in ihren Zügen zutage trat, war von Grund auf verschieden. Monk war selbstsicher, fast arrogant, seine Überzeugungen saßen tief und wurden vom Verstand dominiert, sein Ehrgeiz war grenzenlos. Runcorns Überzeugungen waren zwar nicht weniger tief, aber ihm mangelte es am nötigen Selbstvertrauen. Er war sich seiner Gefühle nicht sicher, und sein Humor war schlicht. Zwar war auch er ehrgeizig, aber seine Verletzlichkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Das Urteil anderer konnte ihn nicht nur beeinflussen, sondern auch kränken.
    »Guten Morgen, Mr. Runcorn«, antwortete Callandra mit verkniffenem Lächeln. Sie akzeptierte den Stuhl, den er ihr anbot. »Ich bedaure, ein Verbrechen melden zu müssen, und da es sich als heikle Angelegenheit erweisen könnte, möchte ich es Ihnen lieber persönlich sagen, als dem nächsten Konstabler auf der Straße. Ich fürchte, die Sache ist sehr ernst.«
    »In der Tat.« Schon jetzt machte er einen auf undefinierbare Weise befriedigten Eindruck, als käme der Umstand, daß sie sich ihm anvertraute, einer Auszeichnung gleich. »Tut mir leid, das zu hören. Handelt es sich um einen Raub?«
    »Nein.« Raub hatte für sie keinerlei Bedeutung. »Es handelt sich um Mord.«
    Seine Selbstgefälligkeit verschwand, aber dafür belebte sich seine Aufmerksamkeit. »Wer wurde ermordet, Madam? Ich werde sofort meinen besten Beamten auf den Fall ansetzen. Wo ist es denn passiert?«
    »Im Königlichen Armenspital in der Gray’s Inn Road«, antwortete sie. »Eine der Krankenschwestern ist erwürgt worden. Sir Herbert Stanhope, der Oberarzt, ein Chirurg von beträchtlichem…«
    »Ich habe selbstverständlich von ihm gehört. Ein hervorragender Mann.« Runcorn nickte. »In der Tat, ein hervorragender Mann! Hat er Sie geschickt, die Angelegenheit zu melden?«
    »In gewissem Sinne.« Es war albern, ihm die Anspielung auf Sir Herbert übelzunehmen – als hätte dieser die Sache in die Hand genommen und sie wäre nichts weiter als eine Botin, und doch wußte sie, daß es letztlich genau darauf hinauslaufen würde. »Ich war eine der Personen, die die Leiche gefunden haben«, fügte sie hinzu.
    »Wie betrüblich für Sie«, sagte Runcorn mitfühlend. »Darf ich nach einer Stärkung schicken? Einer Tasse Tee vielleicht?«
    »Nein, danke.« Es kam etwas energischer als beabsichtigt. Sie war zu erschüttert und ihr Mund völlig trocken. »Nein, danke, ich würde es vorziehen, wieder ins Spital zurückzukehren, damit Ihr Beamter sich an seine Ermittlungen in der Sache machen kann«, fügte sie hinzu. »Ich habe Dr. Beck als Wache zurückgelassen, damit niemand etwas an der Leiche verändert. Er befindet sich jetzt schon eine geraume Weile dort.«
    »Selbstverständlich. Ausgesprochen lobenswert, Madam«, sagte Runcorn, und zweifelsohne war es auch so gemeint, aber für Callandra hörte es sich geradezu unerträglich herablassend an. Fast hätte sie ihn gefragt, ob er denn erwartet hatte, sie würde sich wie eine Idiotin benehmen und die Leiche so hinterlassen, daß jeder daran herumhantieren könnte, aber sie nahm sich zusammen. Sie war besorgter als sie gedacht hatte. Sie stellte zu ihrer Überraschung fest, daß ihr die Hände zitterten. Um sie vor Runcorn zu verstecken, schob sie sie in die Falten ihres Rocks. Dann starrte sie ihn erwartungsvoll an.
    Er stand auf, entschuldigte sich, ging zur Tür, öffnete sie und rief

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