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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Pflichten hier im Hospital, nein«, antwortete ihm Kristian mit zusammengekniffenen Augen.
    Jeavis brummte etwas und trat an den Wäschekorb. Mit spitzen Fingern nahm er das Laken und zog es zurück. Er musterte die Tote. Zum erstenmal warf auch Callandra einen Blick auf sie.
    Prudence Barrymore war Anfang Dreißig gewesen, eine schlanke, hochgewachsene Frau. Sie mochte vielleicht elegant gewesen sein, der Tod jedoch hatte sie zu einem sperrigen Etwas ohne die geringste Anmut gemacht. Arme und Beine von sich gestreckt, lag sie da, einer ihrer Füße ragte nach oben, die Röcke waren hochgerutscht und gaben den Blick auf ein wohlgeformtes Bein frei. Ihr Gesicht war aschfahl, aber selbst als das Blut noch zirkuliert hatte, mußte sie blaß gewesen sein. Ihr Haar war von einem mittleren Braun, die Brauen flach und zart, ihr Mund breit und sensibel. Es war ein leidenschaftliches Gesicht, individuell, voller Kraft und Humor.
    Callandra erinnerte sich lebhaft an sie, obwohl sie einander immer nur in Eile begegnet waren, beide in Erfüllung ihrer jeweiligen Pflicht. Aber Prudence Barrymore war eine Reformerin gewesen, eine Frau von brennendem Eifer, und nur wenige Leute im Hospital hatten sie nicht gekannt. Kaum eine, die im Leben so interessant gewesen war wie sie, und es mutete wie eine boshafte Verhöhnung an, daß sie jetzt dalag, all dessen beraubt, was sie so lebendig, so besonders gemacht hatte, nichts weiter als eine leere Hülle ohne Bewußtsein, ohne Gefühl, und dennoch so schrecklich verletzlich aussah.
    »Bedecken Sie sie wieder«, sagte Callandra instinktiv.
    »Einen Augenblick, Madam.« Jeavis hielt einen Arm hoch, als wolle er Callandra daran hindern, es selbst zu tun. »Einen Augenblick. Erwürgt, sagten Sie? Ja, tatsächlich. Sieht ganz danach aus. Armes Ding.« Er starrte auf die dunklen Male an ihrem Hals. Es war schrecklich leicht, sie sich als die Abdrücke von Fingern vorzustellen, die so lange zudrückten, bis keine Luft, kein Atem, kein Leben mehr in ihr war.
    »Und sie war Krankenschwester?« Jeavis sah Kristian an.
    »Sie hat mit Ihnen zusammengearbeitet, Doktor?«
    »Manchmal«, sagte Kristian. »Meist hat sie jedoch mit Sir Herbert Stanhope gearbeitet, vor allem an seinen schwierigeren Fällen. Sie war eine hervorragende Schwester und, soweit ich das sagen kann, eine großartige Frau. Ich habe nie jemanden schlecht über sie sprechen hören.«
    Jeavis stand reglos da, die dunklen Augen unter den dünnen Brauen fixierten ihn.
    »Ausgesprochen interessant. Was hat Sie denn dazu veranlaßt, im Wäscheschacht nachzusehen, Doktor?«
    »Er war blockiert«, antwortete Kristian. »Zwei der Schwestern versuchten schmutzige Laken hinunterzuwerfen, bekamen sie aber nicht durch. Lady Callandra und ich kamen ihnen zu Hilfe.«
    »Ich verstehe. Und wie haben Sie die Leiche freibekommen?«
    »Wir haben eines der Putzmädchen hier durchgeschickt, ein Kind von dreizehn Jahren. Sie ist in den Schacht gestiegen, ihr Gewicht hat die Leiche bewegt.«
    »Ausgesprochen effizient«, sagte Jeavis trocken. »Wenn auch etwas hart für die Kleine. Aber ich denke, wenn sie in einem Krankenhaus arbeitet, wird sie wohl schon die eine oder andere Leiche gesehen haben.« Er rümpfte die spitze Nase.
    »Wir wußten nicht, daß es sich um eine Leiche handelt!« sagte Kristian voller Abscheu. »Wir nahmen an, es handle sich um ein Bündel Bettzeug.«
    »Tatsächlich?« Jeavis schob den Korb aus dem Weg und spähte für einige Augenblicke den Schacht hinauf. »Wo führt denn der hin?« fragte er, als er sich schließlich umdrehte, mit einem Blick auf Callandra.
    »In den Korridor im Erdgeschoß«, antwortete sie. Sie fand ihn von Minute zu Minute unausstehlicher. »In den Korridor des Westflügels, um genau zu sein.«
    »Merkwürdiger Ort, um eine Leiche zu verstauen, finden Sie nicht?« bemerkte Jeavis. »Ist nicht einfach zu bewerkstelligen, ohne gesehen zu werden.« Mit großen Augen wandte er sich Kristian zu und schließlich wieder Callandra.
    »Was nicht ganz korrekt ist!« antwortete Kristian. »Der Korridor hat in diesem Abschnitt keine Fenster, und tagsüber brennt kein Licht, um Ausgaben zu sparen.«
    »Trotzdem«, widersprach ihm Jeavis, »man würde doch wohl eine Person sehen, die dort herumlungert, und gewiß eine Person, die eine Leiche aufhebt, um sie in einen Schacht zu werfen! Meinen Sie nicht?« Seine Stimme war etwas höher geworden, und auch wenn seine Frage keinesfalls sarkastisch gemeint war, höflich war sie

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