Im Schatten der Gerechtigkeit
antwortete. »Was macht Ihnen daran so zu schaffen?« sagte er schließlich. »Das ist doch nicht alles.«
»Runcorn hat die Ermittlungen einem Inspektor Jeavis übertragen«, antwortete sie. »Kennen Sie ihn?«
»Ein wenig. Ausgesprochen fähig. Er leistet sicher angemessene Arbeit. Warum? Wer war es denn? Wissen Sie es – oder haben Sie einen Verdacht?«
»Nein!« sagte sie zu schnell. »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Warum sollte jemand eine Krankenschwester ermorden wollen?«
»Aus einer ganzen Reihe von Gründen.« Er zog ein Gesicht.
»Die offensichtlichsten sind abgewiesene Liebhaber, eifersüchtige Frauen und Erpressung. Aber es gibt noch andere. Vielleicht hat sie einen Diebstahl beobachtet oder einen Mord, der wie ein natürlicher Tod aussehen sollte. In Krankenhäusern wird ständig gestorben. Und es gibt dort auch immer Liebe, Haß und Eifersucht. War sie hübsch?«
»O ja, durchaus.« Callandra starrte ihn an. Er hatte mit einer Handvoll Worte so viele häßliche Dinge gesagt, und jedes davon konnte wahr sein. Mit ziemlicher Sicherheit traf etwas davon zu. Man erwürgte eine Frau nicht ohne eine heftige Leidenschaft. Es sei denn, es handelte sich um das Werk eines Wahnsinnigen.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte er: »Ich nehme doch an, das Krankenhaus ist nur für körperliche Gebrechen? Es ist kein Irrenhaus?«
»Nein, ganz und gar nicht. Was für ein scheußlicher Gedanke.«
»Ein Irrenhaus?«
»Nein, ich meine, daß jemand völlig Normales sie ermordet hat.«
»Ist es das, was Ihnen zu schaffen macht?«
Sie überlegte schon, ob sie ihn belügen sollte oder wenigstens der Wahrheit ausweichen, entschied sich dann jedoch dagegen.
»Nicht ganz. Ich fürchte, Jeavis hat Dr. Beck in Verdacht, vor allem weil er Ausländer ist, und außerdem hat er zusammen mit mir die Leiche entdeckt.«
Er sah sie aufmerksam an. »Haben Sie Dr. Beck in Verdacht?«
»Nein!« Sie errötete über die Heftigkeit ihrer Antwort, aber es war zu spät. Er hatte sowohl ihren Eifer bemerkt als auch unmittelbar darauf ihre Erkenntnis, sich verraten zu haben.
»Nein, ich halte das für höchst unwahrscheinlich«, fuhr sie fort.
»Aber ich habe kein Vertrauen zu Jeavis. Würden Sie sich mal mit der Angelegenheit befassen? Ich werde Sie selbst engagieren, zu Ihrem üblichen Tarif.«
»Seien Sie nicht albern!« sagte er bissig. »Sie haben mir geholfen, seit ich diesen Beruf ergriffen habe. Sie brauchen mich jetzt nicht zu bezahlen, wenn ich Ihnen schon einmal helfen kann.«
»Aber ich muß.« Sie sah ihn an, und seine Worte erstarben ihm auf den Lippen. Callandra fuhr fort: »Würden Sie bitte den Mord an Prudence Barrymore untersuchen? Sie ist heute morgen gestorben, wahrscheinlich zwischen sechs und halb sieben. Ihre Leiche wurde im Wäscheschacht des Krankenhauses gefunden, und sie scheint erwürgt worden zu sein. Viel mehr kann ich Ihnen nicht sagen, außer daß sie eine hervorragende Schwester war, eine von Miss Nightingales Frauen auf der Krim. Ich schätze sie auf Anfang Dreißig und selbstverständlich unverheiratet.«
»Alles ausgesprochen sachdienliche Informationen«, stimmte er ihr zu. »Aber ich habe keine Möglichkeit, mich in diese Angelegenheit einzuschalten. Jeavis wird mich sicher nicht zu Rate ziehen, und ich glaube nicht, daß er seine Informationen mit mir teilt. Ebensowenig wird man mir im Krankenhaus meine Fragen beantworten, sollte ich die Kühnheit haben, welche zu stellen.« Sein Bedauern ließ sein Gesicht etwas milder werden.
»Tut mir leid, ich würde, wenn ich könnte.«
Aber sie hatte Kristians Bild vor Augen, nicht Monks. »Ich sehe ein, daß es schwierig wird«, sagte sie, ohne zu zögern, »aber es ist ein Krankenhaus. Ich werde dort sein. Ich kann beobachten und Ihnen Bericht erstatten. Und vielleicht wäre die Sache noch effektiver, wenn wir Hester dort einen Posten verschaffen könnten? Sie würde viel sehen, was ich nicht sehe, und schon gar nicht Inspektor Jeavis.«
»Callandra!« unterbrach er sie. Sie bei ihrem Vornamen zu nennen war eine Vertraulichkeit, ja eine Arroganz, die sie jedoch nicht im geringsten störte. Wenn dem so wäre, hätte sie ihn auf der Stelle zurechtgewiesen. Was ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte, war seine Stimme.
»Hester hat eine ausgesprochen gute Beobachtungsgabe«, fuhr sie fort, ohne auf ihn zu achten. Dafür stand ihr Kristians Gesicht noch zu lebhaft vor Augen. »Und sie ist nicht weniger gut als Sie, wenn es
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