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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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nach einem Konstabler. »Schicken Sie auf der Stelle Inspektor Jeavis herauf. Ich habe einen neuen Fall für ihn – und Sergeant Evan.«
    Die Antwort war nicht zu verstehen, aber es dauerte nur wenige Augenblicke, und ein dunkler, finsterer Mann steckte fragend den Kopf durch die Tür. Unmittelbar darauf kam er ganz herein, seine hagere Gestalt in einer förmlichen schwarzen Hose und schwarzem Gehrock. Mit dem weißen Kragen hätte man ihn eher für einen Stadtdirektor oder Bestatter gehalten. Sein Auftreten war selbstbewußt und zurückhaltend zugleich. Sein Blick fiel auf Runcorn, dann auf Callandra, als wolle er um Erlaubnis fragen, eintreten zu dürfen, wartete jedoch nicht darauf, sondern stellte sich in die Mitte zwischen beiden.
    »Jeavis, das hier ist Lady Callandra Daviot«, begann Runcorn, bevor er sich seines gesellschaftlichen Fauxpas bewußt wurde. Er hätte zuerst ihn vorstellen sollen, nicht umgekehrt. Er errötete ärgerlich, aber es war nicht mehr rückgängig zu machen.
    Ohne zu überlegen, erlöste Callandra ihn. Sie tat das ganz instinktiv.
    »Ich danke Ihnen, daß Sie Mr. Jeavis so rasch hinschicken, Mr. Runcorn. Ich bin sicher, es wird sich als das beste Arrangement erweisen. Guten Morgen, Mr. Jeavis.«
    »Guten Morgen, Madam.« Er verbeugte sich leicht und sie fand ihn auf der Stelle irritierend. Er hatte einen fahlen Teint, dickes schwarzes Haar und ausgesprochen schöne Augen, die dunkelsten, die sie jemals gesehen hatte, darüber jedoch merkwürdig dünne Brauen. Es war nicht fair, vorschnell über einen Mann zu urteilen, das war ihr noch im selben Augenblick klar, als sie es tat. »Vielleicht wären Sie so gut, mir zu sagen, welcher Art Verbrechen Sie zum Opfer gefallen sind?« erkundigte er sich.
    »Keinem«, erwiderte sie hastig. »Ich sitze im Verwaltungsrat des Königlichen Armenspitals in der Gray’s Inn Road. Wir haben eben im Wäscheschacht die Leiche einer unserer jungen Schwestern entdeckt. Es sieht ganz so aus, als wäre sie erwürgt worden.«
    »Du lieber Himmel. Wie unangenehm. Wenn Sie sagen ›wir‹, Madam, wen meinen Sie damit?« fragte Jeavis. Trotz seiner servilen Art hatte er einen scharfen, überaus intelligenten Blick. Sie hatte das Gefühl, gründlich gewogen zu werden und daß das Urteil nichts von der gesellschaftlichen Achtung hatte, die er nach außen hin an den Tag legte.
    »Ich und Dr. Kristian Beck, einer der Ärzte aus dem Krankenhaus«, antwortete sie. »Und im gewissen Sinne die Frauen aus der Waschküche, und dann noch ein Kind, das dort als Putzmädchen arbeitet.«
    »Tatsächlich. Was hat Sie denn dazu veranlaßt, den Wäscheschacht in Augenschein zu nehmen, Madam?« Er hatte seinen Kopf neugierig zur Seite geneigt. »Das gehört doch sicherlich nicht zu den Pflichten einer Dame wie Ihnen?«
    Sie erklärte ihm, wie es dazu gekommen war, und er hörte ihr zu, ohne sie auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen.
    Runcorn trat unruhig von einem Bein aufs andere; er war sich nicht sicher, ob er sich einmischen sollte oder nicht, wußte jedoch auch nicht, was er Sinnvolles hätte sagen sollen.
    Es klopfte an der Tür, und auf Runcorns Aufforderung kam John Evan herein. Sein hageres junges Gesicht leuchtete auf, als er Callandra sah, aber er hatte genügend Aplomb, um sich trotz ihrer Vergangenheit und der gemeinsam gelösten Aufgaben mit der Anerkenntnis ihrer Gegenwart zufriedenzugeben.
    »Guten Morgen, Sergeant«, sagte sie förmlich.
    »Guten Morgen, Madam«, antwortete er und bedachte Runcorn dann mit einem fragenden Blick.
    »Ein Mord im Königlichen Armenspital«, ergriff Runcorn die Gelegenheit, das Heft wieder in die Hand zu nehmen. »Sie übernehmen mit Inspektor Jeavis die Ermittlungen. Halten Sie mich über die Ergebnisse auf dem laufenden.«
    »Ja, Sir.«
    »Ach, Jeavis!« fügte Runcorn hinzu, als dieser Callandra die Tür öffnete.
    »Ja, Sir.«
    »Vergessen Sie nicht, sich im Spital bei Sir Herbert Stanhope zu melden! Fallen Sie da nicht ein wie auf Verbrecherjagd in der Whitechapel Road. Denken Sie daran, wer er ist!«
    »Natürlich, Sir«, sagte Jeavis beschwichtigend, aber sein Gesicht verspannte sich unter einem gereizten Zucken. Er hatte es nicht gern, wenn man ihn an gesellschaftliche Artigkeiten erinnerte.
    Evan warf Callandra einen raschen Blick zu; seine haselnußbraunen Augen glitzerten amüsiert. Schweigend tauschten sie einige humorvolle Erinnerungen aus.
    Im Krankenhaus hatte sich die Lage inzwischen völlig verändert. Als sie

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