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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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auch nicht gerade.
    »Nicht unbedingt«, sagte Callandra eingeschnappt. »Zuweilen liegen Wäschebündel auf dem Boden. Und gelegentlich sitzen auf den Fluren betrunkene Schwestern herum. In dem schlechten Licht könnte eine Leiche durchaus einem Haufen Bettwäsche ähneln. Und ich, sähe ich jemanden etwas in den Schacht stecken, würde selbstverständlich davon ausgehen, daß es sich um ein Bündel Laken handelt. Ich kann mir vorstellen, es würde auch allen anderen so gehen.«
    »Du lieber Gott«, Jeavis sah von einem zum anderen.
    »Wollen Sie damit sagen, jeder könnte das arme Ding in den Schacht gesteckt haben, unter den Augen respektabler Mediziner, und kein Mensch wäre auf den Gedanken gekommen, daß da etwas nicht stimmt?«
    Callandra war nicht wohl in ihrer Haut. Sie warf Kristian einen Blick zu. »Mehr oder weniger«, pflichtete sie ihm schließlich bei. »Man achtet hier in der Regel nicht darauf, was der andere tut; jeder geht seiner eigenen Arbeit nach.« Sie stellte sich eine finstere Gestalt vor, die, im schlechten Licht kaum zu erkennen, ein Bündel hebt, das schwerer war, als es sein sollte, um es in den offenen Schacht zu werfen. Als sie fortfuhr, war ihre Stimme belegt. »Ich kam heute morgen an einer Schwester vorbei, die betrunken war oder schlief. Ich könnte nicht sagen, was von beidem. Ihr Gesicht habe ich nicht gesehen.« Sie schluckte, ihr wurde übel, als ihr klar wurde, was das bedeuten konnte. »Es könnte sich durchaus um Prudence Barrymore gehandelt haben!«
    »Tatsächlich!« Jeavis hob die blassen Brauen. »Liegen denn Ihre Schwestern öfter auf den Korridoren herum, Lady Callandra? Haben Sie keine Betten?«
    »Die, die in den Schlafsälen wohnen, schon«, sagte sie spitz.
    »Aber viele von ihnen wohnen außer Haus, und sie haben in der Tat sehr wenig. Sie finden hier keinen Platz zum Schlafen, und auch zu essen haben sie kaum etwas. Tja, und dann trinken sie häufig zu viel!«
    Jeavis schien einen Moment lang aus der Fassung gebracht. Er wandte sich wieder an Kristian. »Mit Ihnen werde ich mich noch einmal unterhalten müssen, Doktor. Mal sehen, was Sie über die Unglückliche sonst noch wissen.« Er räusperte sich.
    »Aber für den Anfang, wie lange, schätzen Sie, ist sie bereits tot? Nicht daß wir nicht unseren Polizeiarzt hätten, aber es würde uns Zeit sparen, Ihre Meinung dazu zu hören.«
    »Etwa zwei Stunden, vielleicht auch drei«, antwortete Kristian kurz und bündig.
    »Aber Sie haben sie doch nicht mal angesehen!« rief Jeavis.
    »Das habe ich, bevor Sie gekommen sind«, antwortete Kristian.
    »Haben Sie, ja! In der Tat!« Jeavis Gesichtsausdruck wurde scharf. »Ich dachte, Sie haben gesagt, Sie hätten die Leiche nicht angerührt! Sind Sie nicht eigens deswegen hiergeblieben? Um dafür zu sorgen, daß sich niemand an den Beweisen zu schaffen macht?«
    »Ich habe sie nur angesehen, Inspektor, nicht bewegt!«
    »Aber Sie haben sie berührt!«
    »Ja, um zu sehen, ob sie bereits kalt ist.«
    »Und war sie das?«
    »Ja.«
    »Woher wollen Sie wissen, daß sie nicht schon die ganze Nacht über tot war?«
    »Weil die Totenstarre noch nicht gewichen ist.«
    »Sie haben Sie also doch bewegt!«
    »Das habe ich nicht.«
    »Das müssen Sie doch!« antwortete Jeavis scharf. »Wie sollten Sie sonst wissen, ob sie steif war oder nicht?«
    »Sie fiel immerhin aus dem Schacht, Inspektor«, erklärte Kristian geduldig. »Ich habe sie fallen sehen, ihre Art und Weise, wie sie im Korb gelandet ist, die Bewegung ihrer Gliedmaßen. Meiner Schätzung nach ist der Tod vor zwei bis vier Stunden eingetreten. Aber Sie sollten da unbedingt noch Ihren eigenen Arzt zu Rate ziehen.«
    Jeavis sah ihn argwöhnisch an. »Sie sind kein Engländer, nicht wahr, Sir? Ich stelle, sagen wir mal, einen gewissen Akzent fest. Einen leichten nur, aber einen Akzent. Wo kommen Sie her?«
    »Aus Böhmen«, antwortete Kristian mit einem belustigten Flackern im Blick.
    Jeavis atmete tief ein, um – wie Callandra dachte – zu fragen, wo das sei, bemerkte dann jedoch, daß auch die Wäscherinnen ihn beobachteten, und ließ es sein.
    »Ich verstehe«, sagte er nachdenklich. »Nun denn, vielleicht wären Sie so gut, Doktor, mir zu sagen, wo Sie heute am frühen Morgen waren? Zum Beispiel, wann Sie hier angekommen sind?« Er sah Kristian dabei fragend an. »Notieren Sie sich das bitte, Sergeant«, fügte er mit einem Nicken für Evan hinzu, der die Szene aus zwei, drei Metern Entfernung verfolgte. »Ich war die

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