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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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steifer als beabsichtigt.
    »Sie haben mir etwas über sie gesagt, was mir sonst keiner hätte sagen können.«
    »Es war nur eine Kleinigkeit.« Sie wischte ihre Hilfe als unzulänglich vom Tisch. »Ich wünschte, ich hätte auch nur die leiseste Ahnung, wer sie lieber tot gesehen hat. Gerade angesichts all der Tragödien und des Leids auf der Welt, gegen das wir nichts vermögen, ist es mir unverständlich, wieso wir uns aus freien Stücken noch mehr schaffen. Manchmal möchte ich an der Menschheit verzweifeln. Hört sich das nach Blasphemie an, Mr. Monk?«
    »Nein, Madam, nur ehrlich.«
    Sie lächelte freudlos. »Werden Sie Hester Latterly wiedersehen?«
    »Aber ja.« Er konnte nicht anders, sein Interesse war so groß, daß er sie ohne zu überlegen fragte: »Haben Sie sie gut gekannt?«
    »O ja.« Das Lächeln kehrte auf ihre Lippen zurück. »Wir haben viele Stunden gemeinsam gearbeitet. Es ist merkwürdig, wieviel man über eine Person erfährt, wenn man an einer gemeinsamen Sache arbeitet, selbst wenn man sich nichts über sein Leben vor dem Krieg erzählt, nichts über seine Herkunft, seine Jugend, über seine Lieben und Träume. Und doch lernt man das Wesen des anderen kennen. Und vielleicht ist das ja der eigentliche Kern der Leidenschaft, meinen Sie nicht?«
    Er nickte, um die Stimmung nicht mit Worten zu zerstören.
    »Ich gebe zu«, fuhr sie nachdenklich fort, »nichts über ihre Vergangenheit zu wissen, aber ich habe gelernt, auf ihre Integrität zu vertrauen, während wir Abend für Abend arbeiteten, um den Soldaten und ihren Frauen zu helfen. Wir haben sie mit Nahrung versorgt und Decken. Wir haben den Kommandierenden Platz abgetrotzt, damit die Betten nicht so eng standen.« Sie stieß ein merkwürdiges kleines Lachen aus, das ihr im Halse steckenzubleiben schien. »Sie konnte so wütend werden! Ich wußte, wenn ich eine Schlacht zu schlagen hatte, auf Hester kann ich mich verlassen. Sie zog sich nicht zurück, sie täuschte nichts vor, und sie schmeichelte keinem. Und ich kannte ihren Mut.« In einer Geste des Widerwillens zog sie die Schultern hoch. »Sie haßte Ratten, und die waren damals überall. Sie kletterten die Wände hoch und fielen dann herab wie faule Pflaumen. Nie werde ich das Geräusch vergessen, mit dem ihre Körper auf dem Boden aufschlugen. Aber ich habe auch ihr Mitgefühl gesehen: keine sinnlose Larmoyanz, sondern ein endloser Schmerz über das Leid der anderen, das zu lindern sie alles nur menschenmögliche tat. Man hat ein besonderes Gefühl für jemanden, mit dem man solche Erfahrungen geteilt hat, Mr. Monk. Ich bitte Sie, ihr meine Grüße zu bestellen.«
    »Das werde ich«, versprach er.
    Er stand wieder auf, sich mit einemmal der Zeit bewußt, die vergangen war. Er wußte, sie hatte ihn zwischen zwei Treffen mit Krankenhausverwaltern, Architekten, Professoren oder ähnlichen Leuten geschoben. Seit ihrer Rückkehr von der Krim hatte sie unermüdlich für die Reformen in Praxis und Verwaltung gearbeitet, an die sie so leidenschaftlich glaubte.
    »Wen werden Sie als nächstes aufsuchen?« kam sie seinem Abschied zuvor. Sie brauchte nicht zu erwähnen, in welcher Angelegenheit, und war keine Frau von unnötigen Worten.
    »Die Polizei«, antwortete er. »Ich habe noch einige Freunde dort, die mir vielleicht erzählen, was der Leichenbeschauer sagt. Vielleicht auch, was andere Zeugen zu Protokoll gegeben haben. Dann möchte ich an ihre Kolleginnen im Spital appellieren. Wenn ich sie überreden kann, mir ehrlich von ihr und anderen zu erzählen, erfahre ich womöglich eine ganze Menge.«
    »Ich verstehe. Gott sei mit Ihnen, Mr. Monk. Sie müssen mehr suchen als nur Gerechtigkeit. Wenn man Frauen wie Prudence Barrymore ermorden kann, während sie ihrer Arbeit nachgehen, dann sind wir alle ein ganzes Stück ärmer. Nicht nur jetzt, sondern auch in Zukunft.«
    »Ich werde nicht aufgeben, Madam«, sagte er grimmig und meinte es ernst. Es ging ihm nicht nur darum, seine Entschlossenheit der ihren anzugleichen, er verspürte auch einen brennenden Wunsch, den zu finden, der ein solches Leben ausgelöscht hatte. »Er wird seine Tat noch bereuen, das verspreche ich Ihnen. Guten Tag, Madam.«
    »Guten Tag, Mr. Monk.«

5
    John Evan war ganz und gar nicht glücklich über den Fall Prudence Barrymore. Allein der Gedanke, daß man eine junge Frau von solcher Vitalität und Leidenschaft ermordet hatte! Aber in diesem speziellen Fall machten ihm auch die anderen Umstände zu schaffen. Er mochte

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