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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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sauste die Faust auf die Armstütze. »Und Jeavis, dieser Riesentrottel, versucht zu beweisen, daß Dr. Beck Prudence Barrymore umgebracht hat.« Sie merkte nicht, wie Callandra erstarrte und einige Nuancen blasser wurde. »Weil es eine einfache Lösung wäre, die es ihm ersparen würde, die anderen Ärzte oder den Kaplan und die Angehörigen des Verwaltungsrats zu vernehmen.«
    Callandra wollte etwas sagen, ließ es dann aber sein.
    »Können wir denn nichts tun, um Marianne Gillespie zu helfen?« fuhr Hester beharrlich fort und beugte sich mit geballten Fäusten vor. Sie sah zu den Rosen hinüber. »Gibt es denn niemanden, an den sie sich wenden könnte? Sir Herbert sagte, man hätte auch seiner eigenen Tochter Gewalt angetan, und auch sie sei davon schwanger geworden.« Sie wandte sich wieder Callandra zu. »Sie ist zu einem Engelmacher in einer Hinterhofpraxis gegangen, der sie so schlimm verstümmelt hat, daß sie nicht mehr heiraten, geschweige denn Kinder bekommen kann. Und sie hat ständig Schmerzen! Herrgott noch mal, irgend etwas muß man doch tun können!«
    »Wenn ich etwas wüßte, würde ich jetzt nicht hier sitzen und Ihnen zuhören«, antwortete Callandra mit einem traurigen Lächeln. »Ich hätte es Ihnen gesagt, und wir wären bereits unterwegs! Seien Sie bitte vorsichtig, sonst schlagen Sie mir noch ein Loch in meinen besten Gartenstuhl.«
    »Oh! Tut mir leid. Aber ich bin so was von wütend!« Callandra lächelte und sagte nichts.
    Die nächsten beiden Tage waren heiß und schwül. Die Gemüter waren gereizt. Jeavis schien allgegenwärtig, stand im Weg und stellte Fragen, die man vorwiegend ärgerlich und sinnlos fand. Der Kämmerer beschimpfte ihn. Ein Herr vom Verwaltungsrat beschwerte sich bei seinem Parlamentsabgeordneten. Mrs. Flaherty hielt ihm einen Vortrag über Abstinenz, Anstand und Redlichkeit, der selbst ihm zuviel war. Danach ging er ihr tunlichst aus dem Weg.
    Aber allmählich ging im Krankenhaus alles wieder seinen gewohnten Gang, und selbst in der Waschküche ging es wieder um das übliche: Ehemänner, Geld, die jüngsten Witze aus der Music Hall und den neuesten Klatsch.
    Monk konzentrierte sich ganz darauf, mehr über Vergangenheit und gegenwärtige Verhältnisse der Ärzte, vor allem der Studenten, in Erfahrung zu bringen, ließ aber auch Kämmerer, Kaplan und diverse Angehörige des Verwaltungsrats nicht aus.
    Eines Tages, am späten Nachmittag, es war noch immer drückend schwül, machte sich Callandra auf den Weg zu einem Besuch bei Kristian Beck. Da es eigentlich keinen Anlaß gab, mußte sie einen erfinden. Im Grunde wollte sie nur sehen, wie er sich unter Jeavis’ Vernehmungen und den alles andere als subtilen Anspielungen hielt, er hätte irgendein schändliches Geheimnis, das Prudence Barrymore nicht der Krankenhausleitung mitteilen sollte.
    Sie hatte noch immer keine richtige Vorstellung davon, was sie ihm sagen sollte, als sie den Korridor entlang auf sein Zimmer zuging. Ihr Herz klopfte, und sie war so nervös, daß ihr Mund wie ausgedörrt war. In der Hitze, die die Nachmittagssonne auf Fenstern und Dächern hinterlassen hatte, war die Luft abgestanden und schal. Fast roch sie den widerlichen Geruch der Verbände und die beißenden Dämpfe menschlicher Ausscheidungen heraus. Zwei Fliegen summten vorbei und stießen blindlings gegen die Scheibe.
    Sie konnte ihn fragen, ob Monk bereits mit ihm gesprochen hatte, und ihn ein weiteres Mal seiner Brillanz und großen Erfolge versichern. Keine sonderlich gute Ausrede, aber sie konnte diese Untätigkeit einfach nicht länger ertragen. Sie mußte ihn sehen und alles in ihrer Macht Stehende tun, um seine Angst, die er doch haben mußte, zu zerstreuen. Immer wieder hatte sie sich vorzustellen versucht, was ihm wohl durch den Kopf gehen mochte, wenn Jeavis seine Andeutungen machte und ihn dabei mit seinen schwarzen Augen fixierte. Es war unmöglich, sich gegen Vorurteile zu verteidigen, dieses irrationale Mißtrauen gegen alles, was anders war.
    Sie kam an seine Tür. Sie klopfte. Sie hörte etwas, eine Stimme, aber sie konnte die Worte nicht verstehen. Sie drehte am Knopf und schob die Tür weit auf.
    Der Anblick, der sich ihr bot, brannte sich ihr auf ewig ins Gedächtnis. Der große Tisch, der ihm als Schreibtisch diente, stand in der Mitte des Raums, und auf ihm lag eine Frau, teilweise mit einem weißen Laken bedeckt, Unterleib und Oberschenkel jedoch entblößt. Neben ihr lagen blutbefleckte Tupfer und ein

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