Im Schatten der Gerechtigkeit
rotverschmiertes Handtuch. Auf dem Boden stand ein Eimer, über dem jedoch ein Tuch lag, so daß sie nicht sehen konnte, was er enthielt. Sie hatte schon genügend Operationen miterlebt, um die Flaschen mit dem Äther und die anderen Gerätschaften zu erkennen, mit denen man einen Patienten anästhesierte.
Kristian stand mit dem Rücken zu ihr. Sie hätte ihn überall erkannt: die Linie seiner Schultern, die Nackenhaare, die Rundung seines Backenknochens.
Und auch die Frau kannte sie. Ihr Haar war schwarz und wuchs ihr in einem Dreieck tief in die Stirn. Sie hatte dunkle, deutlich abgesetzte Brauen und ein kleines Muttermal in Höhe des Augenwinkels. Marianne Gillespie! Es gab nur einen Schluß: Sir Herbert hatte sie abgewiesen – aber nicht so Kristian Beck. Er nahm eine illegale Abtreibung vor.
Callandra stand wie gelähmt, die Zunge steif, der Mund trocken. Sie sah noch nicht einmal die Gestalt der Schwester hinter dem Tisch.
Kristian konzentrierte sich ganz auf seine Arbeit, seine Hände bewegten sich flink, aber vorsichtig, sein Blick fiel immer wieder prüfend auf Mariannes Gesicht, um sicherzugehen, daß sie gleichmäßig atmete. Er hatte weder Callandras Stimme gehört, noch das Öffnen der Tür.
Schließlich kam wieder Leben in sie. Sie trat rückwärts aus dem Raum und zog die Tür hinter sich zu. Ihr Herz klopfte so wild, daß sie am ganzen Körper bebte, und sie bekam kaum noch Luft. Einen Augenblick lang hatte sie Angst zu ersticken.
Vor Müdigkeit schwankend kam eine Schwester vorbei; Callandra war nicht weniger schwindlig, auch sie hatte Schwierigkeiten, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Wie Hammerschläge kamen ihr Hesters Worte in den Sinn. Sir Herberts Tochter war zu einem illegalen Abtreiber gegangen, der so ungeschickt operierte, daß sie nie wieder eine normale Frau oder frei von Schmerzen sein würde.
War das auch Kristian gewesen? Hatte sie sich an ihn gewandt? Wie Marianne? Ihr humorvoller, sanfter und kluger Kristian, mit dem sie so viele zweisame Augenblicke geteilt hatte, dem sie ihre Gedanken nicht zu erklären brauchte, weder die schmerzlichen, noch die komischen; Kristian, dessen Gesicht sie sah, kaum daß sie die Augen schloß, den sie so gerne berührt hätte, obwohl sie wußte, daß sie dieser Versuchung niemals nachgeben durfte. Es hätte die zarte Barriere zwischen einer akzeptablen und einer unmöglichen Liebe zerstört. Der Gedanke, Schande über ihn zu bringen, war ihr unerträglich.
Schande! Konnte der Mann, den sie kannte, tatsächlich derselbe sein, der tat, was sie eben gesehen hatte? Und womöglich Schlimmeres – viel Schlimmeres? Was für ein abscheulicher Gedanke, aber sie wurde ihn nicht mehr los. Sie brauchte nur die Augen zu schließen, schon hatte sie das Bild vor sich.
Und dann kam ihr ein Gedanke, der noch viel schrecklicher war. Hatte Prudence Barrymore davon gewußt? War es das, womit sie nicht zur Krankenhausleitung gehen sollte? Und nicht nur zum Verwaltungsrat, sondern zur Polizei? Hatte er sie ermordet, um sie zum Schweigen zu bringen?
Von ihrem Jammer überwältigt, lehnte sie sich an die Wand. Ihr Verstand verweigerte sich ihr. Sie hatte niemanden, an den sie sich wenden konnte. Sie wagte es nicht einmal Monk zu sagen. Es war eine Bürde, die sie allein zu tragen hätte. Sich der Ungeheuerlichkeit ihres Tuns nicht bewußt, faßte sie den Entschluß, Kristians Schuld mit ihm gemeinsam zu tragen.
6
Hester fand es zunehmend schwierig, sich in die Krankenhausroutine einzuordnen. Sie gehorchte Mrs. Flaherty, aber sie mußte die Zähne zusammenbeißen, um ihr nicht zu widersprechen, und mehr als einmal mußte sie einen Satz mittendrin ändern, um ihn zu entschärfen. Allein der Gedanke an Prudence Barrymore ermöglichte ihr das. Sie hatte sie nicht besonders gut gekannt. Das Schlachtfeld war zu groß, zu verwirrend gewesen, zu voll von Schmerz, Gewalt und erschütternden Zwängen, als daß man sich außerhalb der Arbeit noch hätte groß kennenlernen können. Der Zufall hatte es gewollt, daß sie nur ein einziges Mal mit Prudence gearbeitet hatte eine Begegnung freilich, die sich ihr unauslöschlich eingeprägt hatte. Es war nach der Schlacht von Inkerman im November 54 gewesen, kaum drei Wochen nach der Katastrophe von Balaklava und dem Massaker an der leichten Brigade, die so selbstmörderisch gegen die russischen Kanonen angerannt war. Es war bitterkalt, und der unablässige Regen führte dazu, daß die Männer bis zu den Knien im Schlamm
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