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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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standen. Die Zelte waren voller Löcher, und man schlief in nasser, schmutzstarrender Kleidung, die sich zudem aufzulösen begann, ohne daß man das nötige Flickzeug gehabt hätte. Einer wie der andere waren sie unterernährt, weil der Nachschub nicht klappte. Und nicht zuletzt waren sie alle erschöpft von den ständigen Strapazen und ihrer Angst.
    Sie sah Prudence Barrymores Gesicht vor sich, ihren konzentrierten Blick, der im Aufruhr der Gefühle zum Strich gezogene Mund, das verschmierte Blut auf Wange und Stirn, wo sie sich die Haare aus den Augen gewischt hatte. Sie hatten in schweigender Übereinstimmung gearbeitet, zu müde, um etwas zu sagen, wenn auch ein Blick genügte. Es bestand keine Notwendigkeit, ein Gefühl auszudrücken, das man so vollkommen teilte. Ihre Welt bestand aus privatem Entsetzen, Mitleid, Notwendigkeiten und einer Art schrecklichem Sieg. Wenn man das überlebte, konnte einen selbst die Hölle nicht mehr schrecken.
    Man hätte nicht von Freundschaften sprechen können; es war zugleich weniger und mehr. Solche Erfahrungen zu teilen schuf ein Band und hob sie vom Rest der Welt ab. Man konnte so etwas niemandem erzählen. Es gab keine Worte, die für beide Seiten dasselbe bedeutet hätten, die das physische Grauen oder die Höhen und Tiefen ihrer Gefühle vermittelt hätten.
    Daß Prudence nicht mehr war, rief neben einer Art Einsamkeit auch einen ungestümen Zorn über die Art ihres Todes hervor.
    Während der Nachtschicht – die Mrs. Flaherty ihr aufbrummte, wann immer es nur ging; sie haßte die Schwestern von der Krim mitsamt den Veränderungen, für die sie standen – machte Hester im Schein der Lampen ihre Runde, und gerade dann stürmten die Erinnerungen auf sie ein. Mehr als einmal hörte sie einen dumpfen Plumps und fuhr erschauernd herum in der Erwartung, eine benommene Ratte zu sehen, die von der Wand gefallen war; aber es war nichts weiter zu sehen als ein Bündel Laken und Bandagen oder ein Fäkalieneimer.
    Allmählich lernte sie die anderen Schwestern kennen und unterhielt sich mit ihnen, wann immer sich eine Gelegenheit bot. Sehr oft hörte sie einfach zu. Sie hatten eine entsetzliche Angst. Prudence’ Name fiel oft, warum hatte man sie ermordet? Lief im Hospital ein Verrückter herum? Könnte es sein, daß eine von ihnen die nächste war? Es kursierten Geschichten von unheimlichen Schatten, die durch die leeren Korridore huschten, von gedämpften Schreien und plötzlicher Stille; man stellte Spekulationen an über so gut wie jeden Mann aus dem Personal.
    Frühmorgens befand sie sich in der Waschküche. Die riesigen Kessel schwiegen, kein Lärmen des Dampfes in den Rohren, kein Zischen, kein Blubbern. Es war Schichtende. Es gab kaum noch etwas zu tun, außer Laken zu falten und abzuholen.
    »Wie war sie denn so?« fragte Hester mit beiläufigem Interesse. »Herrschsüchtig«, antwortete eine ältere Schwester und verzog das Gesicht. Sie war dick und müde, und ihre rotgeäderte Nase legte stummes Zeugnis davon ab, daß ihr Trost aus der Ginflasche kam. »Ständig am Anschaffen. Die hat gemeint, weil sie auf der Krim war, hätt’ sie alles gewußt. Manchmal hätt’ sie gar bei den Ärzten anschaffen wollen.« Sie ließ ein zahnloses Grinsen sehen. »Das hat die vielleicht die Wände hochgetrieben, mein Lieber.«
    Die ganze Runde lachte. So unbeliebt Prudence auch gewesen war, offensichtlich waren die Ärzte noch unbeliebter, und wann immer sie mit ihnen über Kreuz kam, fanden die Frauen das lustig und standen hinter ihr.
    »Tatsächlich?« Hester legte ein unverhohlenes Interesse an den Tag. »Hat man ihr da nicht mal Bescheid gestoßen? Da hat sie doch Glück gehabt, daß man sie nicht rausgeworfen hat!«
    »Die doch nich’!« Eine Schwester lachte abrupt auf.
    »Kommandieren mußt’ sie immer, aber sie hat auch gewußt, wie man so eine Station auf Zack bringt und sich um die Kranken kümmert. Die hat mehr gewußt als Mrs. Flaherty! Aber wenn Sie jemandem sagen, ich hätt’ das gesagt, also ich kratz’ Ihnen die Augen aus.« Mit einem Plumps ließ sie das letzte Laken fallen.
    »Wer wird dem alten Drachen schon was sagen, du dumme Kuh?« sagte die erste beißend. »Aber so gut war sie meiner Meinung nach auch wieder nicht. Wenn sie’s auch gedacht hat, wohlgemerkt.«
    »Und ob sie das war!« Jetzt wurde die andere zornig. Ihr Gesicht lief rot an. »Die hat ’ner Menge Leute das Leben gerettet in dem gottverlassenen Laden hier! Sogar gerochen hat’s hier besser,

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