Im Schatten der Gerechtigkeit
warum ich die Polizei nicht mit dieser Angelegenheit betrauen will. Und meine Schwester versteht meine Gefühle, wofür ich ihr zutiefst dankbar bin. Außerdem weiß sie sehr gut, daß es keinen Sinn hätte. Er würde es natürlich abstreiten. Aber selbst wenn es zu beweisen wäre, was unmöglich ist, sind wir beide von ihm abhängig. Wir wären alle ruiniert – und wozu?«
»Sie haben mein Mitgefühl, Madam«, sagte er etwas sanfter.
»Es ist eine wahrhaft tragische Situation. Aber ich vermag nicht zu sehen, wie ich Ihnen dabei helfen kann. Schwangerschaft ist keine Krankheit. Ihr Hausarzt wird Ihnen alle Hilfe geben, die Sie benötigen, und während der Niederkunft wird sich eine Hebamme um sie kümmern.«
Zum erstenmal meldete sich jetzt Marianne mit lauter und klarer Stimme. »Ich möchte das Kind nicht haben, Sir Herbert. Seine Zeugung ist die Folge eines Ereignisses, das ich für den Rest meines Lebens zu vergessen versuchen werde. Seine Geburt würde uns alle ruinieren.«
»Ich verstehe Ihre Situation sehr gut, Miss Gillespie.« Er setzte sich zurück und blickte sie mit ernster Miene an. »Ich fürchte nur, daß Sie in dieser Angelegenheit keine Wahl haben. Ist ein Kind erst einmal gezeugt, gibt es nur eines: die Geburt abzuwarten.« Der Anflug eines Lächelns umspielte seinen hübschen Mund. »Ich habe tiefstes Mitgefühl für Sie, aber alles, was ich tun kann, ist, Sie an Ihren Pastor zu verweisen und bei ihm Trost zu suchen.«
Marianne blinzelte und schlug die Augen nieder, ihr Gesicht geradezu schmerzhaft heiß. »Natürlich gibt es eine Alternative«, sagte Julia hastig. »Eine Abtreibung.«
»Meine liebe Dame, Ihre Schwester scheint mir eine gesunde junge Frau zu sein. Wir haben weder Grund zur Annahme, daß ihr Leben in Gefahr ist, noch daß sie kein gesundes Kind zur Welt bringen könnte.« Er faltete seine schönen, sensiblen Hände. »Ich könnte unmöglich einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen. Es wäre eine Straftat, dessen sind Sie sich doch bewußt, oder?«
»Die Vergewaltigung war die Straftat!« protestierte Julia und beugte sich vor, die Hände, deren Knöchel ganz weiß waren, auf der Schreibtischkante.
»Sie haben bereits sehr klar zum Ausdruck gebracht, warum Sie keine Anzeige erstattet haben«, sagte Sir Herbert geduldig.
»Aber so oder so, in dieser Situation kann ich nichts für Sie tun.« Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber ich kann so etwas nicht tun. Sie bitten mich, ein Verbrechen zu begehen. Ich kann Ihnen einen exzellenten und diskreten praktischen Arzt empfehlen und werde das gern tun. Er praktiziert in Bath, was Ihnen Gelegenheit gibt, London und Ihren Bekannten für einige Monate fernzubleiben. Er wird außerdem einen Platz für das Kind finden, sollten Sie es zur Adoption freigeben wollen, was Sie zweifelsohne tun sollten. Es sei denn…?« Er wandte sich an Julia. »Könnten Sie denn nicht in Ihrer Familie Platz dafür schaffen, Mrs. Penrose? Oder glauben Sie, die qualvollen Umstände der Zeugung nicht überwinden zu können?«
Julia schluckte hart und öffnete den Mund, aber bevor sie antworten konnte, schnitt ihr Marianne das Wort ab. »Ich möchte dieses Kind nicht austragen!« Ihre Stimme hob sich in panischer Angst. »Es ist mir egal, wie diskret dieser Arzt ist oder wie leicht es hinterher einen Platz finden könnte. Können Sie das nicht verstehen? Das Ganze war ein einziger Alptraum! Ich möchte es vergessen und nicht mit etwas leben müssen, das mich jeden Tag aufs neue daran erinnert!«
»Ich wollte, ich könnte Ihnen einen anderen Ausweg anbieten«, sagte Sir Herbert mit einem schmerzlichen Ausdruck.
»Aber ich kann nicht. Wie lange ist es denn her?«
»Drei Wochen und fünf Tage«, antwortete Marianne prompt.
»Drei Wochen?« fragte Sir Herbert ungläubig, die Brauen hochgezogen. »Aber mein liebes Mädchen, da können Sie doch unmöglich wissen, daß Sie in anderen Umständen sind! Sie werden frühestens in drei, vier Monaten die erste Bewegung spüren! Ich an Ihrer Stelle würde nach Hause gehen und aufhören, mir Sorgen zu machen.«
»Ich bin aber in anderen Umständen!« sagte Marianne mit einem harten, nur mit Mühe unterdrückten Zorn. »Die Hebamme sagt es, und sie irrt sich nie. Sie kann so etwas sagen, indem sie einer Frau ins Gesicht sieht, auch ohne die anderen Zeichen.« Schmerz und Zorn mischten sich in ihrem Ausdruck, als sie ihn trotzig anstarrte.
Er seufzte. »Möglicherweise. Aber das ändert nichts an der Sachlage.
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