Im Schatten der Gerechtigkeit
wissen, wofür wir Sie bezahlen!«
»Ich bin mir dessen sehr wohl bewußt«, sagte Evan zornig.
»Gerade die Tatsache, daß sie nicht schuldig sein kann, macht ihre Beobachtungen so nützlich.«
»Welche Beobachtungen denn?« Mrs. Flahertys weiße Augenbrauen schossen in die Höhe. »Wie ich Ihnen grade gesagt habe, junger Mann, war sie nicht hier! Was könnte sie also gesehen haben?«
Evan tat unendlich geduldig. »Mrs. Flaherty, vor fünf Tagen hat jemand eine der Schwestern erwürgt und die Leiche in den Wäscheschacht gestopft. So etwas ist nicht die vereinzelte Tat eines Wahnsinnigen. Wer immer das gewesen ist, hatte ein starkes Motiv, das seine Wurzeln in der Vergangenheit hat. Ähnlich wirkt die Erinnerung an das Verbrechen und die Angst, gefaßt zu werden, in die Zukunft. Es gibt jetzt viel zu beobachten für jemanden mit Augen im Kopf.«
Mrs. Flaherty warf brummend einen Blick auf Hester: ihre kräftigen Züge, ihre schlanke, fast magere Figur, die kantigen Schultern, die aufrechte Haltung. Und dann einen auf Evan neben dem mit Bandagen überhäuften Tisch: das braune Haar wie ein weicher Flügel über der Stirn, lange Nase, sensibles, humorvolles Gesicht. Sie stieß ein ungläubiges Schnauben aus. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und marschierte davon.
Evan wußte nicht, sollte er wütend sein oder lachen, und diese gemischten Gefühle waren ihm deutlich anzusehen.
»Tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu kompromittieren. Auf den Gedanken bin ich gar nicht gekommen.«
»Ich auch nicht«, gab Hester mit leicht geröteten Wangen zu. Das Ganze war so lächerlich. »Vielleicht sollten wir uns das nächste Mal besser außerhalb treffen.«
»So daß auch Jeavis nichts mitbekommt«, sagte er rasch. »Er würde es nicht sehr schätzen, wenn ich dem Feind mit Rat und Trost zur Seite stehe.«
»Dem Feind! Bin ich denn der Feind?«
»Indirekt, ja.« Er steckte die Hände in die Taschen. »Runcorn haßt Monk noch immer und hört nicht auf, Jeavis zu sagen, um wieviel besser er ist. Aber auf dem Revier ist Monk noch immer in aller Munde, und Jeavis ist nicht dumm. Er weiß genau, warum Runcorn ihn bevorzugt. Also ist er entschlossen, sich zu beweisen – und Monks Geist endlich zu bannen.« Er lächelte.
»Nicht daß ihm das je gelingen wird! Runcorn kann all die Jahre mit Monk auf den Fersen nicht vergessen, all die Male, in denen Monk recht hatte und Runcorn falsch lag. Die Kleinigkeiten, die unausgesprochene Verachtung, die besser geschnittenen Anzüge, die etwas vollere Stimme.« Er beobachtete Hesters Augen. »Allein die Tatsache, daß er Monk so oft erfolglos zu demütigen versuchte. Letzten Endes hat er natürlich gewonnen, aber es schmeckt nicht nach einem Sieg. Im Grunde will er Monk zurückholen, um noch einmal gewinnen zu können – und diesmal will er es richtig genießen.«
»Ach, du lieber Gott.« Hester rollte die letzte Bandage auf und verschnürte das Ende. Jeavis tat ihr leid, und, wenn auch nicht ganz so eindeutig, auch Runcorn, aber vor allem verspürte sie einen scharfen Kitzel der Genugtuung für Monk. Sie lächelte nicht, aber fast. »Armer Inspektor Jeavis.«
Evan blickte einen Augenblick lang verwirrt drein, dann begriff er, und seine Miene hellte sich liebenswürdig auf. »Ich gehe jetzt besser und spreche mit dem Kaplan.« Er neigte den Kopf. »Ich danke Ihnen!«
Noch am selben Nachmittag schickte Sir Herbert nach Hester: sie sollte ihm bei einer Operation assistieren. Die Nachricht überbrachte ihr eine Schwester mit mächtigen Schultern, groben Zügen und auffallenden Augen. Hester hatte sie bereits mehrere Male gesehen und war ihr immer mit einem gewissen Unbehagen begegnet. Diesmal bemerkte sie zum erstenmal, warum ihre Augen so fesselnd waren: das eine war blau, und das andere grün, kühl und klar. Wie hatte ihr das nur bisher entgehen können? Vielleicht hatte sie die physische Kraft der Frau so beschäftigt, daß für weitere Eindrücke kein Platz mehr war.
»Sir Herbert will Sie sehen«, sagte die Frau grimmig. Sie hieß Dora Parsons, das wußte Hester noch; sie tat sich schwer, die vielen Namen zu behalten.
Hester stellte ihren Eimer ab. »Wo?«
»In seinem Büro natürlich. Du nimmst wohl ihren Platz ein, nehm’ ich an, was? Oder bildest es dir wenigstens ein!«
»Wessen Platz?«
Das riesige häßliche Gesicht der Frau troff geradezu vor Verachtung.» Komm’ mir bloß nicht auf die Doofe, Gräfin Rotz! Bloß weil du
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