Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
euren Zimmer zu hocken«, sagt Kirsty.
» Mum hat uns in den Ferien immer Gesellschaft geleistet«, sagt Sophie. » Ich versteh nicht, wieso du das nicht auch kannst. Es ist doch nicht so, als hättest du…«
Sie fängt den Blick ihrer Mutter auf, erkennt die Warnung darin und bricht ab. Steht vom Tisch auf und schlurft in ihren marineblauen Socken, aus denen die großen Zehen ragen, zu ihren Turnschuhen rüber. Socken, denkt Kirsty. Sie wachsen aus allem raus. Ich muss beim Primark vorbeifahren. Und vielleicht ist es ganz gut, dass sie das Sommerlager nicht mag, denn wenn es nicht langsam aufwärtsgeht, wird es ihr letztes sein. Dann müssen sie nächstes Jahr um diese Zeit in irgendeinem Ausbeuterbetrieb malochen.
Sie wirft einen kurzen Blick auf Jim und stellt erleichtert fest, dass er Sophies Taktlosigkeit ignoriert hat. Derzeit kann man sich da nie so ganz sicher sein. Manchmal genügt ein unvorsichtiges Wort, die Vermutung, dass er alle Zeit der Welt und sowieso nichts Besseres zu tun habe, um ihn in eine Spirale des Selbstzweifels zu stürzen, was die Jobsuche wieder tagelang torpediert. Er geht so gut damit um, denkt sie, aber es ist für uns alle schwer, und manchmal vergisst er das. Es macht mir eine Heidenangst, dass ich die Einzige bin, die das Geld verdient, aber darüber kann ich nicht mit ihm reden. Jedes Mal, wenn ich es tue, klingt es wie ein Vorwurf.
Jim verstaut seine Bewerbungsmappe in seiner Aktentasche und kommt zu ihr, um ihr einen Abschiedskuss zu geben. Gott sei Dank begreift er die Jobsuche als Arbeit. Ernsthafte Sorgen macht sie sich erst, wenn er nur noch im Schlafanzug herumläuft.
» Sorry«, sagt er und deutet auf den nicht abgeräumten Tisch. » Das mache ich, wenn ich wiederkomme.«
Diese Demut macht sie ganz verzagt. Sie fühlen sich alle beide nicht wohl damit, dass er den Großteil der häuslichen Pflichten übernommen hat, auch wenn das natürlich vernünftig ist. » Schon okay«, erwidert sie. » Ich muss sowieso nicht vor elf weg.«
Er hängt sich die Tasche über die Schulter. » Was steht heute auf dem Programm?«
» Pressekonferenz. Irgendeine neue politische Bewegung. Eine Art autoritäre, rechtsradikale UKIP oder so.«
» Klingt wie ein Witz.«
» Wird ein Kinderspiel«, sagt sie.
Jim lacht. » Sei im Zweifelsfall sarkastisch.«
» Erstes Gesetz des Journalismus.«
Wieder eine kleine, unbehagliche Pause. Sie vermeidet es, ihn nach seinen Plänen für den Tag zu fragen. Seit seiner Entlassung versetzt die Tatsache, dass alle seine Tage nach dem gleichen Muster– sich in die Jobanzeigen vertiefen, Kaffee trinken, nachmittags die Hausarbeit erledigen– ablaufen, beiden einen Stich. Kirsty weiß, wie sie sich an seiner Stelle fühlen würde. Sie liebt ihre Arbeit, definiert sich über sie. Allein der Gedanke, sie nicht mehr machen zu können, erfüllt sie mit tiefer, schmerzhafter Wehmut.
» Wie nennen sie sich?«
» Die New Moral Army– die Armee der Neuen Moralisten.«
Er lacht. Nimmt seinen Tee und trinkt ihn aus. » Ach du lieber Himmel! Kinder, auf jetzt!«
» Wird ein kurzer Tag heute, schätze ich«, sagt sie. » Und nach einem Witz werde ich wohl kaum groß suchen müssen. Muss bloß die Rede abtippen.«
» Ich habe noch nie was von denen gehört.«
» Sie sind ja auch neu. Dieser Kerl, Dara Gibson, finanziert sie.«
» Was? Dieser Wohltätigkeitsheini?«
Kirsty nickt. Dara Gibson, ein Selfmade-Milliardär, hatte kürzlich durch eine Reihe öffentlicher Spenden für Krebsforschung, Tiere, Umweltschutz und arme Kinder Aufsehen erregt. Das komplette Gefühlsregister, keine der Schenkungen anonym.
» Hm«, sagt er. » Hätte mir denken können, dass er eine Absicht verfolgt.«
» Das tut schließlich jeder auf die eine oder die andere Art.«
KAPITEL 5
Ein netter junger Polizist bringt Amber im Streifenwagen nach Hause, wo er sie kurz vor elf absetzt. Sie fühlt sich völlig fertig, schmutzig und ausgetrocknet; doch der Anblick ihrer eigenen Haustür hebt ihre Stimmung, wie immer. Allein die Tür macht sie glücklich. Sie einfach anzusehen. Sie war das Erste, was sie nach dem Einzug gekauft hatten: eine richtige getäfelte Massivholztür, die sie gegen den Drahtglashorror aus Sozialwohnungszeiten austauschten. Sie verkörpert so viel für sie: Gediegenheit, Unabhängigkeit, ihren allmählichen Aufstieg in der Welt. Jeden Tag– selbst an einem Tag wie heute– ertappt sie sich dabei, wie sie über den Anstrich aus königsblauem Glanzlack
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