Im Schatten der Mitternachtssonne
vorüber war. Doch sie mußte sich um Olavs Begräbnis kümmern. Mehr erstaunt als verärgert fragte sie: »Wieso haßt du ihn so sehr? Er hat dich wieder bei sich aufgenommen. Er hat dir vergeben. Ihr habt wieder an unserem Nachtmahl teilgenommen. Warum sprichst du so grausam über ihn?«
Toki zuckte die Achseln. »Ich habe Olav nicht gehaßt. Ich wollte bloß Keith nicht heiraten, aber meine Eltern zwangen mich dazu. Und er ist kein tüchtiger Geschäftsmann wie sein Vater. Olav schuldete uns beiden etwas, und er gab uns wenig. Nein Zarabeth, Olav war dir zugetan — seiner hübschen, jungen Schlampe, die er zur Ehefrau nahm. Er wandte sich von seinem einzigen Sohn ab, weil du ihm Keith entfremdet hast.«
Imara richtete sich nun auf, ihre Schultern waren so breit wie die eines Mannes, ihre Oberarme stramme Muskelpakete. Sie baute sich vor der schmächtigen Toki auf. »Hinaus mit dir! Und kehre erst zurück, wenn du deine giftige Zunge beherrschen gelernt hast.«
Die bucklige, weißhaarige Lannia widmete sich weiter ihren Waschungen und sagte, ohne den Kopf zu heben: »Tokis Mutter war eine Hexe, und sie hat eine Hexe zur Welt gebracht. Kümmere dich nicht um sie, Zarabeth.«
Und Zarabeth hatte Toki wirklich schon halb vergessen. Ihre Aufmerksamkeit galt Lotti, die in einer entfernten Ecke kauerte und mit sechs geschnitzten Holzstöckchen spielte, die Olav ihr vor einiger Zeit geschenkt hatte. Das Kind war still, zu still.
Plötzlich nagte ein Gefühl der Angst an ihr. Olav war tot. Was würde nun aus ihr und Lotti werden?
Am Tag nach Olavs Bestattung erhielt sie darüber Gewißheit. Zwei seiner Freunde aus dem Ältestenrat suchten sie auf. Es waren alte, grauhaarige, zahnlose Männer. Sie setzte ihnen süßen Met vor und wartete respektvoll, bis die Alten zu sprechen begannen.
». .. Und daher hat Olav dir, Zarabeth, all seine Güter hinterlassen, sein Geschäft und sein Haus. Er wünschte nicht, daß sein Sohn etwas von ihm erbt.«
Sie hatte Olav nicht wirklich geglaubt, als er ihr damals seine Absicht eröffnete. Sie war sicher, daß er seinen Sohn versorgen würde, daß er seine Meinung ändern, daß er über Tokis Bosheit hinwegsehen und Keith nicht bestrafen würde, um sich an seiner Schwiegertochter zu rächen. Sie schüttelte den Kopf. »Aber Keith . . . das ist nicht Recht. Olav hat gewiß . . .«
»Es ist so, wie wir dir sagen.« Beide musterten sie nun prüfend, als sei sie eine fremdartige Erscheinung. »Es stimmt, die Leute wundern sich darüber. Aber du bist jung und ansehnlich, und darin liegt die Antwort auf alle Fragen. So ist es und so soll es sein. So hat dein Ehemann es verfügt.«
Und sie verließen das Todeshaus rasch, da einem Mann nicht wohl war bei dem Gedanken, der Geist des Toten könne ihm folgen und sich ohne sein Wissen an seine Seele heften. Dennoch wunderte Zarabeth sich über den übereilten Aufbruch, die Kürze ihrer Rede. Sie hatte die beiden Alten bis zum heutigen Tag nur gütig erlebt. Falls die Männer Mißfallen an Olavs Heirat mit ihr hegten, so hatten sie ihre Gefühle gut verborgen. Sie erinnerte sich deutlich an die beiden Alten an ihrem Hochzeitstag; zwei betrunkene Graubärte, die kichernd in jeden Weiberhintern kniffen, der ihnen nahe genug kam. Lachend hatten sie Olav auf den Rücken geschlagen und ihm im vernehmlichen Flüsterton ihre Altmännerratschläge zur bevorstehenden Hochzeitsnacht gegeben. Nun war ihnen das Lachen vergangen.
Zwei Tage lang blieb Zarabeth im Haus, schlief viel und erholte sich von den Strapazen der Krankenpflege. Olavs Begräbnis war die übliche Feier aus christlichen und heidnischen Ritualen. Auf seinen Grabhügel wurde ein stattlicher Runenstein gesetzt. Die Nachbarn ließen sie in Frieden, als ahnten sie, daß sie den Wunsch hegte, allein zu sein. Am dritten Tag ging sie mit Lotti nach draußen. Die Hochsommerhitze mit den vertrauten üblen Gerüchen nach tierischen und menschlichen Exkrementen schlug ihr entgegen. Kein Lüftchen kühlte die drückende Hitze. Sie winkte den Nachbarn zu, dankbar, daß man Rücksicht auf sie genommen hatte. Doch man wich ihrem Blick aus, wandte sich rasch ab. Türen schlossen sich. Was war geschehen?
Sie spazierte mit Lotti zum Hafen, eine Angewohnheit, die sie seit Magnus Verschwinden pflegte. Sie blickte über die vertäuten Handelsschiffe, allesamt Wikinger-Drachenboote mit überdeckten Frachträumen. Sie wußte, die Seewind war nicht da, dennoch hielt sie nach ihr Ausschau, mit dürstender
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