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Im Schatten der Mitternachtssonne

Im Schatten der Mitternachtssonne

Titel: Im Schatten der Mitternachtssonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Coulter
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Verachtung auf das Kind, das leise weinend gurgelnde, unverständliche Laute von sich gab.
    »Nimm sie an dich, Keith, und kümmere dich um sie. Dem Kind wird bei dir kein Leid geschehen.« Lotti strampelte und schlug um sich; Keith hielt sie weit von sich, um den Hieben ihrer kleinen Fäuste zu entgehen.
    »Nein!« Zarabeth brüllte wie ein wildes Tier. Sie griff nach Lotti, doch man riß ihre Arme zurück und hielt sie in schmerzhafter Umklammerung fest. Tränen strömten ihr übers Gesicht und schnürten ihr die Kehle zu, während sie hilflos zusah, wie Keith versuchte, Lotti zu bändigen. Das Kind bäumte sich auf, versuchte sich aus seiner Umklammerung zu befreien. Vergeblich. Zarabeth war von einem einzigen Gedanken besessen: Sie mußte Lotti retten. Um das tun zu können, mußte sie zunächst sich selbst retten. Irgendwie gelang es ihr, ruhig zu werden. Leise sagte sie: »Nein, Lotti, sei still, Liebes. Keith wird dir nicht weh tun. Und Toki auch nicht. Arnulf vom Rat der Ältesten hat versprochen, daß er gut auf dich achtgibt. Geh jetzt mit ihm, und ich hole dich ab, wenn alles vorüber ist.«
    Zu aller Erstaunen blickte Lotti ihre Schwester an, dann lächelte sie, ein unschuldiges Lächeln voller Vertrauen und bettete ihr Köpfchen an Keiths Schulter. Kleine Schluchzlaute entrangen sich ihrer gequälten Brust.
    »Komm«, befahl der Wachtposten, und seine Stimme war ebenso häßlich wie sein Gesicht. Er zerrte sie hinter sich her zum Langhaus. Sie wandte den Kopf und sah, wie die Ratsherren sich entfernten, gefolgt von Keith mit der nunmehr ruhigen Lotti auf dem Arm.
    Der Wächter schob sie ins Innere des Langhauses. In der Dunkelheit konnte sie zunächst überhaupt nichts erkennen. Dann nahm sie menschliche Gestalten wahr. Ein elender, verdreckter Haufen, einige Männer in Ketten, schmutzverkrustete Frauen mit wirren, verfilzten Haaren, Hoffnungslosigkeit im Blick. Jede dieser erbärmlichen Gestalten hatte einmal eine Heimat gehabt und eine lange, traurige Geschichte zu erzählen. Sie waren Sklaven, Leibeigene ohne Rechte.
    Zarabeth wandte ihre Aufmerksamkeit dem Wachtposten zu, der jetzt krächzte: »Es wird dir kein Leid geschehen.« Er hob den Kopf und sah die Männer an, die bei ihrem Eintreten unruhig geworden waren. »Wenn einer von euch Bestien sie anrührt, peitsche ich ihn so lange aus, bis ihm das Fleisch vom Rücken fällt.«
    Dann wandte er sich wieder an Zarabeth und zerrte sie ans andere Ende des langgezogenen, düsteren Raums. »Halt den Mund, dann wird dir nichts geschehen.« Damit ließ er sie stehen, in dem strohgedeckten Langhaus, in dem es kein einziges Fenster gab. Der Gestank der Menschen stach ihr in die Nase. Langsam schleppte sie sich zu einem leeren Platz an der entfernten Wand und kauerte sich auf den Lehmboden. Niemand redete mit ihr. Kein Mensch achtete auf sie. Es herrschte tiefe Stille.
    Sie war benommen, doch nicht genug, daß ihr die grauenvolle Stille nicht aufgefallen wäre. In dem Raum warteten etwa zwanzig Männer und Frauen auf ihr weiteres Schicksal, warteten darauf, daß jemand kam, um sie zu kaufen und mitzunehmen. Manche redeten leise miteinander, und sie erkannte den Dialekt ihrer Heimat Irland. Sie fragte sich, welchen Stand die Menschen hatten, bevor die Wikinger sie gefangengenommen und sie hierher nach York verschleppt hatten. Sie fragte sich, ob sie früher ebenso heruntergekommen, verdreckt und zerlumpt waren, oder ob erst die Gefangenschaft sie zu schmutzigen Tieren gemacht hatte.
    Der Tag verging und dann die Nacht. Zarabeth schlürfte eine dünne Suppe aus einer groben Holzschale. Sie mußte sich keine Sorgen zu machen, daß einer der Männer versuchte, sie zu belästigen. Sie waren zu sehr mit sich und ihrem Elend beschäftigt, um sich mit ihr zu befassen. Sie fror in der Nacht, aber es war ihr egal. Niemand kümmerte sich darum. Sie dachte an Lotti und spürte, wie der kalte Schweiß ihr den Rücken hinunterlief. Schmutz verklebte ihre Nasenflügel, bedeckte ihr Kleid. Als sie am nächsten Morgen erwachte, stand der häßliche Wächter über ihr und hielt die schöne Brosche in der Hand, die Olav ihr geschenkt hatte. Er hatte sie ihr vom Kleid gerissen und das dünne Leinen an ihrer Schulter zerfetzt.
    Sie sagte nichts. Es hatte keine Bedeutung. Stattdessen sagte sie zum Wächter: »Ich werde bald zum König gebracht. Ich bin schmutzig und möchte mich waschen.«
    Er sah sie an wie einen Paradiesvogel. Dann warf er lachend seinen struppigen Kopf in den

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