Im Schatten der Mitternachtssonne
kurzen Augenblick lang war er bei ihr, und alles war wie früher. Nun war er ihr fern wie nie zuvor.
Sie nickte und versuchte, sich aufzurichten, war aber zu schwach dazu.
Magnus fluchte leise in sich hinein. Er half ihr auf, so daß sie sich an die Bootswand lehnen konnte. Er gab ihr eine Holzschale mit gekochten Rüben und Hammelfleisch. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Nach dem ersten Bissen schloß sie genießerisch die Augen.
Ihre Schwäche verärgerte Magnus. Wieso hatte man sie hungern lassen? Diese verfluchten Sklavenlager! »Wenn du gegessen hast, ruhst du dich aus. Wage dich nicht auf Deck, sonst kannst du was erleben.«
Er erhob sich und folgte Horkel gebückt aus dem Frachtraum.
»Ihr Haar ist wie eine lodernde Flamme«, bemerkte Horkel ohne großes Interesse.
»Ja, rot wie die Flammen der Christenhölle.«
»Du hast ihr das Leben gerettet.«
»Sie hat keinen Grund, mir dafür dankbar zu sein, weil ich ihren Willen brechen werde.«
Horkel sagte nichts darauf, wunderte sich nur über den Haß seines Freundes gegen diese Frau. Jeder Mann wurde irgendwann von einer Frau zurückgewiesen. Wieso sollte Magnus eine Ausnahme sein? Horkel ging seiner Arbeit nach und überließ Magnus seinen düsteren Gedanken. Auf einem Schiff gab es immer viel zu tun. Jeder der zwanzig Seeleute wußte genau, was zu tun war und war nicht auf Magnus' Anweisungen angewiesen.
Die Frau wollte unbedingt ihre kleine Schwester bei sich haben. Nein, das Kind war in York besser aufgehoben. Niemand würde der Kleinen etwas antun. Außerdem hatte er nicht die Absicht, dieser Betrügerin auch nur einen Fußbreit entgegenzukommen. Es wurde Abend, und er sah nicht nach der Sklavin. Stattdessen gab er Anweisungen, sie zu bewachen. Ragnar, ein draufgängerischer, ansehnlicher junger Mann, stolz wie ein Hahn, sollte diese Aufgabe übernehmen. Magnus verließ das Schiff, um einen Händler aufzusuchen, der ihm eine Botschaft und Handelswaren für seinen Vater mitgeben wollte. Sein Vater, Harald Erlingsson, Herzog und Kleinkönig des Gravaktales war ein mächtiger Mann, der sich von König Harald Schönhaar unterdrückt fühlte. Was würde sein Vater wohl zu Zarabeth sagen?
Zarabeth aß ihre Schale leer und spürte, wie die Kraft in ihren Körper zurückkehrte. Sie bewegte sich zunächst vorsichtig, um nicht wieder in Ohnmacht zu sinken. Dann stand sie auf. Sie konnte sich gerade aufrichten, die Leinenbespannung befand sich etwa zwei Handbreit über ihrem Kopf. Sie mußte Lotti befreien. Magnus war nicht bereit, ihr zu helfen. Sie mußte sich selbst helfen. Sie würde vor Magnus fliehen und York den Rücken kehren. Sie würde mit Lotti nach Süden, Richtung Wessex wandern, in das Land der Sachsen, in dem Großkönig Alfred herrschte. Ihr Entschluß stand fest. Sie begann, einen Plan zu schmieden.
Ragnar lehnte am Ruder, als er sah, wie die junge Frau die Otterfelle zurückschlug und auf dem offenen Boot erschien. Sie wirkte verstört und schmutzig, und er empfand Mitleid mit ihr. Doch sie hatte Magnus verschmäht und war nichts als eine Mörderin und Sklavin. Er rief ihr in barschem Ton zu: »Verschwinde, und wag dich nicht an Deck. Das ist der Befehl deines Herrn.«
Zarabeth achtete nicht auf seine Worte, kam auf ihn zu, vorsichtig auf der Mittelplanke gehend: »Ich muß mich erleichtern. Bitte hilf mir.«
Ragnar war drauf und dran, ihr zu sagen, sie solle sich an Ort und Stelle hinhocken. Doch sie war in einem elenden Zustand. Es war nicht nötig, sie zu zwingen, ihre Notdurft vor ihm und den anderen Männern zu verrichten. Er stand auf und winkte ihr, ihm zu folgen. Zarabeth achtete nicht auf die anderen Männer, die auf dem Boot herumlungerten, und folgte Ragnar. In den Falten ihres Gewandes hielt sie ein Messer mit Elfenbeingriff versteckt, das sie in einer der Kisten im Frachtraum gefunden hatte. Sie hatte nicht die Absicht, den Mann zu verletzen, sie wollte ihn nur daran hindern, daß er ihre Flucht vereitelte. Das Messer war der Weg in die Freiheit, und sie würde lieber sterben, ehe sie aufgab.
Magnus würde sie noch mehr hassen, aber ihr blieb keine andere Wahl. Stumm ging sie neben Ragnar her.
Er führte sie ein paar Schritte weg von der Seewind und deutete in eine düstere, schmutzige Seitengasse. »Ich warte hier und passe auf, daß niemand kommt. Beeil dich.«
Sie nickte mit gesenktem Kopf, das Bild vollkommener Unterwürfigkeit und machte sich daran, an ihm vorbeizugehen. Plötzlich stolperte sie, schrie auf, als
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