Im Schatten der Mitternachtssonne
habe sie sich verletzt. Ragnar eilte ihr zu Hilfe. Und dann spürte er einen dumpfen Schlag und den stechenden Schmerz des harten Messergriffs an seiner Schläfe. Er sackte in sich zusammen. Ein letzter Gedanke schoß ihm durch den Kopf: Für diese Dummheit bringt Magnus mich um.
Zarabeth stand keuchend über ihm, starrte schaudernd auf das Messer in ihrer Hand. Dann schleifte sie den Besinnungslosen weiter in die Gasse hinein und eilte lautlos wie ein Schatten den Kai entlang, weg von Ragnar, weg von der Seewind. Sie hatte einen Mann bewußtlos geschlagen. Der Gedanke, ihn möglicherweise getötet zu haben, jagte ihr Grauen ein. Doch sie mußte Lotti holen, sie retten und dann mit ihr aus York fliehen.
Sie erreichte Olavs Haus in der Abenddämmerung. Unterwegs war ihr kein bekanntes Gesicht begegnet. Sie schlich sich an das hintere Fenster und spähte hinein. Keith war nicht da, nur Toki. Und bei allen Göttern, mit Toki würde sie fertig werden. Wo aber war Lotti? Dann sah sie das Kind in einer Ecke kauern mit verschlossenem Gesicht, die wachsamen Augen auf Toki gerichtet, die sich am Herd zu schaffen machte. Zarabeth stockte der Atem. Hatte Toki der kleinen Lotti weh getan? Zumindest hatte sie das Kind erschreckt. Zarabeth war fest entschlossen, sich an Toki zu rächen.
Sie betrat Olavs Laden, schlug lautlos die Tierhaut zurück und ging leise zum Wohnbereich. Als sie das Fell zurückschlug, das die beiden Räume trennte, hob Toki mit einem Stirnrunzeln den Kopf; sie hatte Keith erwartet. Bei Zarabeths Anblick erbleichte sie. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei, doch Zarabeth war schneller. Sie warf sich auf ihre Widersacherin, legte ihren Arm um Tokis Hals und schnürte ihr die Kehle zu.
»Hör zu, du verlogene Schlampe, du niederträchtiges Weib. Kein Laut, hast du verstanden!?« Zarabeths Arm drückte fest, sie hörte ein ersticktes Lallen, drückte noch fester und zischte in Tokis Ohr: »Du elende Hexe, ich weiß, daß du Olav getötet hast. Ich weiß, daß du es geschafft hast, Keith zum Schweigen zu bringen. Und du gehst straffrei aus. Aber Lotti bekommst du nicht. Ich will dich noch einmal ansehen, damit ich nie vergesse, wie das Gesicht einer Verräterin und Mörderin aussieht.«
Zarabeth drehte Toki zu sich, las das Entsetzen in den Augen der Frau. Sie lächelte. Mit großer Genugtuung versetzte Zarabeth der röchelnden Toki mit dem Messergriff einen wuchtigen Schlag gegen den Kopf. Die Frau sackte zu Boden, und Zarabeth sah das mit Freuden. Das war wohl die einzige Strafe, die Toki für den Mord an Olav erhalten würde. Immerhin etwas. Lotti lief mit ausgebreiteten Armen heran, leise wimmernd und Zarabeths Namen rufend. Zarabeth tröstete sie mit zärtlichen Worten und hob sie in ihre Arme. »Jetzt ist alles wieder gut, mein Liebling. Du bist in Sicherheit. Wir beide gehen von hier fort, und keiner darf dir etwas zuleide tun.«
Sie überlegte kurz, ob sie das Kleid wechseln sollte, doch dafür war keine Zeit. Sie mußte fliehen mit dem, was sie beide auf dem Leib trugen, auch wenn sie aussah wie eine zerlumpte Bettlerin.
Sie schlüpfte aus Olavs Laden, der nun Keith gehörte, und tauchte in die Schatten der anbrechenden Nacht. Sie sah niemand, hörte nur vereinzelt Menschen reden, lachen. Sie strebte dem südlichen Befestigungswall der Stadt zu. Dort gab es ein Tor, durch das sie heimlich die Stadt verlassen konnte.
Sie wechselte Lotti auf den anderen Arm. Lange würde sie das Kind nicht mehr tragen können. Sie verlangsamte ihre Schritte, hatte Seitenstechen, ihr Atem ging stoßweise.
Schon sah sie das Tor vor sich, an dem etwa ein halbes Dutzend Leute herumlungerten. Gottlob kannte sie keinen davon.
Ihr Blick war auf das Tor fixiert. Sie sah nichts anderes. Dann hörte sie seine tiefe Stimme hinter sich: »Deine Dummheit übersteigt alle Grenzen.« Und ihr war, als habe man ihr einen Schlag in den Magen versetzt. Sie schnellte herum. Magnus stand dicht hinter ihr, groß und mächtig.
Sie schrie gellend auf, drehte auf dem Absatz um und rannte blindlings auf das Tor zu.
11
Magnus lachte über das Entsetzen in ihren Augen, dann las er ihre Verzweiflung und zog die Stirn in Falten. Rasch packte er zu.
»Du hast das Rennen verloren, Zarabeth.« Er drehte sie zu sich herum, froh, sie so rasch gefunden zu haben. Die blanke Angst in ihren Augen ließ ihn zögern. Blitzschnell riß sie sich los, zog das Messer aus den Falten ihres Kleides und fischte ihn zähnefletschend an: »Bleib mir vom
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