Im Schatten der Pineta
»Tiziana, kannst du mich morgen Abend vertreten?«
»Sicher, Chef. Damit du deine Pflicht tun kannst, mach ich doch alles.«
»Danke.«
»Sympathisch, dieser Anwalt, nicht wahr?«
»Wir hatten gerade von meinen Pflichten gesprochen. Willst du, dass ich dich an deine erinnere, oder gehst du freiwillig das Klo putzen?«
Tiziana nahm Gummihandschuhe und Putzeimer, schob sich hinter dem Tresen vor und streckte Massimo die Zunge heraus. »Du bist vielleicht nachtragend.«
Massimo ergriff erneut das Buch und nahm mit nachdrücklicher Geste den Bierdeckel heraus. Dann sagte er halblaut: »Ich hasse es, nicht recht zu behalten.«
»Menschenskind. Das ist das erste Mal, dass du es zugibst.«
»Es ist das erste Mal, dass du es miterlebst. Zu den Alten kein Wort, oder ich bring dich um.«
Und so fand sich Massimo, ganz in seiner neuen Rolle als ernsthafter Mensch aufgehend, beim Abendessen mit Avvocato Valenti im Boccaccio wieder. Sie hatten sich im sogenannten Kleinen Künstlersaal an einen etwas abseits gelegenen Tisch gesetzt.
Der Kleine Künstlersaal hieß so, weil seine Wände mit Kunstdrucken von Aldos Lieblingskünstlern geschmückt waren, wie zum Beispiel von Hokusai oder Jack Vettriano. Im restlichen Speisesaal hingegen hingen grauenhafte Daguerreotypien mit Seefahrermotiven oder bäuerlichen Sujets aus dem vorigen Jahrhundert an den Wänden, zwischen Gigantografien, auf denen der Koch in Jägermontur neben den prächtigsten Exemplaren posierte, die er im Laufe seiner Karriere geschossen hatte.
Während des Essens sprachen Massimo und der Anwalt über dieses und jenes. Seinem Jurastudium zum Trotz war Avvocato Valenti ein äußerst intelligenter Mensch, wenngleich nicht übermäßig geistreich, wie Massimo fand. Ebenso konnte er seine humanistische Bildung nicht verhehlen. Sie hatten den Espresso kaum ausgetrunken, als Avvocato Valenti Massimo erneut seine Befürchtungen darlegte.
»Eines verstehe ich allerdings nicht«, sagte Massimo.
»Und das wäre?«
»Pigi, also Ihr Mandant, wurde verhaftet, nicht mehr und nicht weniger. Ich verstehe nicht, warum Sie so beunruhigt sind. Sind Sie sicher, dass er aufgrund der vorliegenden Indizien verurteilt werden könnte?«
»Aber nein, ganz im Gegenteil. Es gibt keine Beweise. Es gibt kein Motiv. Es gibt einzig und allein die Aussage eines Barista, entschuldigen Sie, aber so ist es, die besagt, dass der Fahrersitz weit nach hinten geschoben war. Außerdem hat mein Mandant kein Alibi, das stimmt. Aber sollte es je zu einer Verhandlung kommen, die diesen Namen verdient, würden wir gar nicht erst bis zur Frage des Alibis gelangen. Wir sind hier schließlich nicht in Burundi. Um hierzulande einen Verdächtigen wegen Mordes zu verurteilen, muss man seine Schuld zweifelsfrei beweisen. Wenn es keine ihn belastenden Beweise und kein Tatmotiv gibt, kann kein Geschworenengericht ihn schuldig sprechen. Allein schon seine Verhaftung war ein überzogener und vorschneller Akt, aber was kann man von jemandem wie unserem Fusco schon anderes erwarten?«
»Und nun?«, fragte Massimo.
»Das Problem ist, auch wenn mein Mandant wieder freigelassen wird, wird ihn die Öffentlichkeit bereits verurteilt haben. Oder anders gesagt«, fuhr der Rechtsanwalt fort, »ist sich mein Mandant der Tatsache bewusst, dass er in einem kleinen Ort lebt.«
»Wo die Leute reden«, sagte Massimo in Gedanken versunken.
»Genau. Es gibt Klatsch und Tratsch. Die Lokalzeitungen tun ihr Übriges, und sie schreiben das, was die Leute lesen wollen. Einige dieser Zeitungen berichten fast ausnahmslos über menschliches Unglück, und wenn man bedenkt, dass sie nicht einmal objektiv sind, wenn es ums Wetter geht, wie sollen sie da erst ihr Berufsethos unter Beweis stellen, wenn es sich um einen Mordfall handelt? Die Leute lesen die Zeitungen, kommentieren das Gelesene und ziehen ihre Schlüsse. Und so wird mein Mandant unweigerlich zu dem‚ der das Mädchen ermordet hat und davongekommen ist. Und genau das will er verständlicherweise vermeiden.«
Dann muss er halt das restliche Dorf umbringen, hätte Massimo am liebsten erwidert. Stattdessen besann er sich auf seine Rolle des ernsthaften Menschen und beschränkte sich darauf, zu fragen: »Und wie will er das anstellen?«
»Seines Erachtens gibt es nur einen Weg. Und ich stimme ihm zu. Man muss den wahren Täter finden und versuchen, dessen Schuld zu beweisen.«
»Ich muss mich wiederholen: Und wie will er das anstellen?«
»Wir müssen alles von Anfang
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