Im Schatten der Pineta
nicht vor die nächste Straßenbahn werfen wollte). Der Senat spielte unter einer großen Linde Canasta und veranstaltete ausnahmsweise mal keinen Radau. Da stieg ein nicht gerade großer Typ mit runder Nickelbrille und bis auf zwei seitliche Haarstreifen kahlem, spiegelblankem Schädel aus einem Z4, betrat lächelnd die Bar und grüßte mit lauter Stimme: »Guten Tag.«
»Kommt drauf an.«
»Wie bitte?«
»Kommt drauf an, was Sie wünschen. Wenn Sie einfach nur was Kaltes trinken und sich draußen in den Schatten setzen wollen, könnte ich anschließend in Ruhe weiterlesen, und der Tag wäre weiterhin gut, zumindest noch für eine Weile. Wenn Sie jedoch über die Mordsache Costa reden wollen, wäre ich gezwungen, mein Buch zuzuschlagen, und müsste diese Unterbrechung wohl oder übel in die Kategorie ›Störung durch Typen, die einem auf den Sack gehen‹ einordnen. Insofern würde mir Ihre Begrüßung ziemlich heuchlerisch erscheinen.«
(Zu Massimos Entschuldigung sei gesagt, dass, wenn er ein gutes Buch las, er dazu neigte, sich so sehr in den Autor und seinen Schreibstil einzufühlen, dass er unweigerlich in dessen Ton verfiel, wobei das betreffende Buch in der ersten Person aus dem Blickwinkel eines englischen Butlers am Ende des Zweiten Weltkriegs erzählt wird. Wenn man einmal von der Formulierung »Störung durch Typen, die einem auf den Sack gehen« absieht, die gewiss nicht zum Wortschatz eines hochrangigen Hausangestellten zählt, ist nicht auszuschließen, dass Massimos Antwort stark unter dem Einfluss der Sprache stand, die Ishiguro seinem Butler Stevens zugedacht hat.)
In dem peinlichen Moment, der darauf folgte, hörte man nur das Rascheln von Papier, als eine Seite umgeblättert wurde, und von draußen eine Stimme, die offenbar einem recht betagten Herrn gehörte und sagte: »Der Schlag soll dich und dieses gottverdammte Canasta treffen, du Depp! Wenn du wenigstens einmal im Jahr deinen Verstand gebrauchen würdest, wäre das nicht zu deinem Schaden.«
Noch immer lächelnd, fragte der Typ: »Und warum glauben Sie, dass ich mit Ihnen über den Mordfall Costa sprechen möchte?«
»Weil ich erst gestern ein Foto von Ihnen im Tirreno gesehen habe mit der Bildunterschrift ›Avvocato Luigi Nicola Valenti, Verteidiger von Piergiorgio Neri‹«, erwiderte Massimo, ohne von seinem Buch aufzusehen. »Momentan sitzt Piergiorgio Neri, genannt Pigi, unter dem Verdacht der Ermordung von Alina Costa in Haft, aufgrund von Indizien, die ich geliefert habe. Unter der Annahme, dass eins und eins auch in diesen Zeiten des rasanten Verfalls der Sitten und Gebräuche zwei ergeben, steht für mich außer Frage, dass Sie mit mir über etwas sprechen wollen, das Ihren Mandanten betrifft.«
Nach wie vor lächelnd setzte sich Avvocato Valenti auf einen Barhocker, wozu er wegen seiner geringen Körpergröße einen kleinen Hüpfer machen musste.
»Na ja, mir ist schon zu Ohren gekommen, dass Sie eine hervorragende Beobachtungsgabe besitzen, und ich sehe, dass man mir die Wahrheit gesagt hat. Aber man hat mir auch gesagt, Sie seien ziemlich unsympathisch.«
»Das stimmt nicht«, sagte Massimo, der unverwandt in sein Buch blickte, »ich bin sogar sehr sympathisch. Ich mag es einfach nur nicht, wenn einige meinen, mir zu jeder Tageszeit auf den Sack gehen zu dürfen, und seit dieses Mädchen umgebracht wurde, passiert das ziemlich häufig. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
»Warum nicht? Könnte ich bitte einen caffè haben?«
»Nein, der liegt außerhalb meiner Reichweite.«
»Wie bitte?«
»Wie Sie sehen, ist mein Bewegungsradius zurzeit eingeschränkt, da ich ein Fußbad nehme. Die Kaffeemaschine ist leider zu weit weg. Aber Sie können alles andere haben, was sich in diesem Thekenabschnitt befindet – Eistee, Bier, Mineralwasser und geeiste Getränke. Wir wär’s zum Beispiel mit einer sizilianischen Granita, die, wie es sich gehört, mit Zitronen aus Erice gemacht ist, oder einer Kaffeegranita? Ein recht großes Angebot, da werden Sie mir bestimmt zustimmen, nicht wahr?«
»Aber … na gut, dann bitte eine Kaffeegranita, danke.«
»Mit Sahne oder ohne?«
»Ohne, bitte. Also …«
»Mit Brioche oder ohne?
»Eine Granita mit einem Brioche? Das höre ich zum ersten Mal.«
»Wirklich?« Massimo tat zutiefst erstaunt. »So was. Also?«
»Ohne Brioche, bitte«, erwiderte der Rechtsanwalt, der langsam doch leicht irritiert wirkte.
Massimo stand auf, ohne die Füße aus dem kühlen Wasser zu nehmen,
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