Im Schatten der Tosca
Stimme nach der Norma wirklich angestrengt geklungen, jetzt, nach der Susanna, war sie wieder ausgeglichen und biegsam, einmal mehr hatte sich Mozart als wohltuender Balsam für die Sängergurgel bewährt. Gute Voraussetzungen also, um die ›Medea‹ in Angriff zu nehmen.
Jens Arne fand Elias Auffassung von der Medea recht schlüssig: »Ja, sie ist mehr als eine finstere Zauberin, allein schon die unerbittliche Grausamkeit, mit der sie sich an ihrer Nebenbuhlerin rächt, hat etwas übermenschlich Unmenschliches. Aber du siehst sie vielleicht doch zu sehr als Opfer, vergiss nicht, wie viele Gräueltaten sie bis dahin schon begangen hat. Wo sie es für nötig hält, geht sie über Leichen, sogar den eigenen Bruder hat sie geopfert, aus Liebe, von mir aus, aber das macht die Sache auch nicht besser. Ständig ruft sie die Götter der Unterwelt an, die Erinnyen, die Furien, sie ist schon eine unheimliche, monströse Figur. Aber rein psychologisch lässt sich ihr zerrissener Charakter nicht erklären.« Genau das hatte Jens Arne von jeher an der ›Medea‹ gereizt, das Abartige, Barbarische, Schauerliche.
Im Laufe der Proben geriet Elia immer stärker in den Bann ihrer Heldin. Ihre Not, ihre Verzweiflung, ihr Rasen verfolgten sie bis in den Schlaf hinein. Sie schlug um sich, sie flehte, sie weinte, in den Träumen stieg sie hinab in ihre heimlichsten Seelenverliese, in denen das Dunkle weggesperrt hauste. Einmal stach und prügelte sie im Traum wie rasend auf einen menschlichen Körper ein, vor Entsetzen darüber fuhr sie in ihrem Bett hoch und war sich nicht sicher, ob sie nicht wirklich einen Mord begangen hatte. Sie fürchtete sich. Ihre Vorsätze, bei dieser düsteren Geschichte einen kühlen Kopf zu bewahren, waren dahin. Entweder sie lieferte sich aus, mit Haut und Haaren, oder sie scheiterte katastrophal. »Ich schaffe das nicht, ich kann das nicht, nimm eine andere«, flehte sie Jens Arne an, doch der ließ sich nicht erweichen: »Was redest du da, natürlich kannst du das, einfach schon, weil du musst, wenn du aufgibst, das würdest du dir niemals verzeihen. Undzudem bist du gut, sehr gut, und ich helfe dir ja, verlass dich ganz auf mich, dann kann dir nichts passieren.« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen und weil er spürte, dass es sich nicht um eine der üblichen Panikattacken handelte, wie sie Sänger manchmal überfielen, ging er am Flügel mit Elia Takt für Takt das Ende des ersten Aktes und den tatsächlich halsbrecherischen dritten Akt durch und bewies ihr, dass man selbst hier hochdramatisch sein und dabei doch bei sich bleiben konnte. Noch bei der Orchesterprobe ging diese Rechnung auf. Wenn es wirklich ernst wurde, bei den Vorstellungen, würden sie auch dann so maßvoll davonkommen?
Mehr und mehr verschmolz Elia mit Medea. Ihren Widerstand hatte sie längst aufgegeben, sie dachte nicht mehr an sich. Eine wilde Kraft ging von ihr aus, sie schien wie elektrisch aufgeladen. Alle im Haus spürten das Besondere, die anderen Sänger, die Zuschauer, die Musiker im Orchestergraben und am allermeisten Jens Arne. Auch er wirkte wie besessen, und so stoben zwischen ihm und Elia die Funken. Medeas schauerliche Beschwörung, ihre und Jasons verzweifelte Anrufung des goldenen Vlieses begleitete das Orchester atemlos und gehetzt. In einem zerhackenden, federnden Rhythmus brauste der erste Akt seinem Ende zu.
Beim dritten Akt dann sträubten sich den Zuschauern tatsächlich die Haare. Elias Gesang war höchste Kunst und zugleich vokaler Selbstmord. Alles spiegelte sich darin wieder, auch in den Rezitativen, noch die verborgensten Schwankungen zwischen zärtlicher Mutterliebe und blindwütigem Hass, schauderhaft und herzzerreißend. Elia sang um ihr Leben – und Jens Arne trieb sie dabei an. Auch die anderen Sänger wurden in den Strudel der Leidenschaften mit hineingerissen. Immer wieder wurde die Vorstellung durch Applaus unterbrochen, zum Schluss jubelte das Publikum allen Mitwirkenden zu, und Elia huldigte es mit stehenden Ovationen. Sie nahm sie entgegen wie in Trance.
Auch bei dem anschließenden Essen hatte sie noch längstnicht zurückgefunden in die Wirklichkeit. In ihrer Seele, ihrem Körper vibrierten die Schrecknisse der vergangenen Stunden. Jens Arne triumphierte: So, genau so hatte er sich immer die ›Medea‹ vorgestellt. Und jetzt hatte er seinen Traum wahrgemacht, ein Meisterwerk war gelungen, ihm und Elia, ja, sie waren ein phantastisches Team! Voller Stolz legte er seinen Arm um ihre
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