Im Schatten der Tosca
von Neuem an: »Ich habe mein Leben zerstört.« Auch dieses Blatt zerknüllte sie. »Wir haben mein Leben zerstört«, auch das war es nicht. »Mein Leben ist zerstört.« Elia legte den goldenen Füller weg. Auch das letzte Blatt zerknüllte sie und warf alles ins Feuer. Sie schaute den Flammen zu, bis sie das letzte Papierknäuel verzehrt hatten.
Alles das stimmte so nicht, Sisi sah bei ihr zu sehr das Schicksal ihrer Mutter. »Er ist ein Machtmensch und muss allen anderen seinen Willen aufzwingen«, so hatte Panaiotis sie gewarnt. Aber was hieß das, woher kam so ein Zwang, die anderen unterjochen und bändigen zu wollen – und warum hatte sie mitgemacht und sich das gefallen lassen? Plötzlich war sie Sisi von Herzen dankbar, die sie auf unsanfte Weise aus ihrem Schneckenhaus gescheucht hatte, aus freien Stücken hätte sie sich vielleicht nicht so bald hinausbewegt. Nach diesem Gebrüll und den schlimmen Vorwürfen konnte sich Elia nicht länger etwas vormachen und sich totstellen. Es half alles nichts, sie musste es sich eingestehen: Es war aus mit Jens Arne und ihr! Beide waren sie aneinander gescheitert. Wollte sie nicht vollends Schaden nehmen an Leib und Seele, musste sie weg von ihm!
Weg! Wie das im Einzelnen gehen sollte, davon hatte sie keine Ahnung. Aber eines empfand sie ganz deutlich, sie war ihm keine Erklärung oder Rechtfertigung schuldig. Sie legte noch einen Buchenscheit nach, und während sie darauf wartete, dass das Feuer ihn annahm, wurde sie ganz ruhig. Als das Holz an der unteren Seite rot aufzuglühen begann, stand sie auf, ging in die Küche und sagte dem Mädchen: »Ich habe es mir anders überlegt. Ich werde doch nicht bleiben.«
In ihrem Zimmer packte sie ihre Sachen zusammen, in die Handtasche tat sie drei Kassetten, die sie aus London mitgebracht hatte, ihre uralte ›Tosca‹-Aufnahme aus Stockholm. Dann holte sie den Mercedes aus der Remise. Ohne auch nur zu überlegen, fuhr sie in Richtung Süden, nach Rom.
Der Wagen schoss wie ein Pfeil über die Autobahn, Elia war ganz in das berauschende Fahrgefühl versunken. Irgendwann auf der langen Fahrt wurde sie müde. Sie steckte die ›Tosca‹-Kassette in den kleinen Rekorder. In London hatte sie schon ein paarmal hineingehört, aus einer plötzlichen Sehnsucht nach Carlos’ Stimme, immer nur die eine Stelle:
»E lucevan le stelle …«.
Jetzt spielte sie die Aufnahme von Anfang an. »Die Zerstörung des Glücks und des Schönen durch das Böse«, so war ihr die ›Tosca‹ immer erschienen. Nun lauschte sie fasziniert, als hörte sie eine fremde Aufführung. Sie summte und sang mit, Gott, waren das Stimmen, alle drei, welch eine Frische und Wucht! Beim dritten Akt konnte Elia spüren, wie sich alle ihre Sinne schärften.
Als der Morgen graute, näherte sie sich Rom. Zur gleichen Zeit erklangen die Trommelwirbel des Erschießungskommandos. Elia zuckte nicht mit der Wimper, ihre Hände lagen ruhig auf dem Steuer, nur ihr Herz klopfte schneller. Bei Toscas letztem Aufschrei war sie zu Hause angekommen.
Sie hielt direkt vor der Haustür, hoffentlich waren um diese Zeit weder die Diebe noch die Polizisten auf den Beinen. Müde schleppte sie ihre Sachen in den Hauseingang, dann überlegte sie, was sie mit dem Wagen machen sollte, seinen wunderschönen Mercedes sollte Jens Arne nicht auch noch einbüßen. In diesem Moment kam Signor Paolo, der Besitzer der kleinen Bar unten im Haus, ein großer Verehrer Elias, auf seinem Mofa angeschnurrt und erbot sich, das edle Gefährt sicher unterzubringen.
Elia schlief bis in den Nachmittag hinein; als sie endlich aufwachte, wusste sie einen Augenblick lang gar nicht, wo sie war. Sie rief Massimo in der Praxis an, hoffentlich, hoffentlich hatte er heute Abend Zeit, er war der Einzige, den sie jetzt sehen wollte. Sie hätte auch Mariana anrufen können, niemand kannte Jens Arne besser, und sie würde auch nicht triumphieren, das wusste Elia, aber erst musste sie mit sich selbst ins Reine kommen. Massimo war höchst verwundert und auchbestürzt, als ihm Elia in ein paar Sätzen den Grund ihres Hierseins erzählte. Er versprach, sie nach der Praxis abzuholen, vielleicht konnten sie bei Umberto zusammen essen.
In Paolos Bar aß Elia eine Kleinigkeit, dann nahm sie ein Taxi und fuhr zur Engelsburg. Sie ging die steinerne Rampe hoch und dann über die enge Treppe, bis hinauf zur obersten Plattform. Hier mochte Cavaradossi seinen Brief geschrieben haben, und dort hatten Tosca und er den fingierten
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