Im Schatten der Tosca
Sprung ansetzen. Wohin? Nach Frankreich? Nach England? Oder gar nach beiden Ländern?
Mariana dankte Gott, dass er die Engländer mit ihrem sonderbaren Humor und der fast auf einen Tick hinauslaufenden Fähigkeit ausgestattet hatte, alles zu untertreiben. Auch durch London schwirrten die Gerüchte, und alle Welt hing am Radio. Doch nachdem der Ernst der Lage feststand, wurde das nicht theatralisch-lustvoll bejammert und aufgebauscht, wie es Marianas geliebte Italiener vielleicht getan hätten, sondern eine sportlich-heitere Entschlossenheit überkam die Nation: Nun gerade nicht! Man würde sich nicht kopfscheu machen lassen und nicht den Mut verlieren. Contenance, Disziplin, Kampfgeist, das waren auf der Insel keine leeren Worte. Auch in der Oper hielt man sich daran, ein patriotischer Schwung wehte durchs Haus, niemand, auch Mariana nicht, kam auf die Idee, die Arbeit hinzuschmeißen und vorzeitig abzureisen.
Gewissermaßen zur »Belohnung« für ihr tapferes Ausharren durfte sie dann die Anfänge des modernen Luftkrieges aus der Nähe miterleben, eine Erfahrung, auf die sie gern verzichtet hätte. Denn kurz vor dem geplanten Rückflug begann die deutsche Westoffensive, in Holland und dann auch in Belgien wurde mächtig geschossen, zu Lande und auch in der Luft. Tagelang wusste Mariana nicht, ob überhaupt noch ein Flugzeug nach Schweden aufbrechen würde – Schiffe taten es mit Sicherheit nicht mehr. Zwischendurch war von Schottland die Rede, der Start von dort und der nördlichere Kurs seien möglicherweise weniger gefährlich. Verloren saß Mariana mit ihren beiden Koffern auf dem Londoner Flughafen herum und dachte an Massimo. Würde sie ihn jemals wiedersehen? Plötzlich kam ein hoher Offizier auf sie zugestürmt, verbeugte sich zackig, packte ihre Koffer:
»Please, Madam. I am so sorry to disturb you, we are in a little hurry« ,
rief er ihr zu und keuchte über das Rollfeld hin zu einer Militärmaschine, in der schon einige Menschen stumm warteten. Lauter bedeutende Persönlichkeiten, wie Mariana später begriff. Kaum war sie an Bord, wurde die Tür geschlossen und der Motor angeworfen. Das Flugzeug war schon eine Weile in der Luft, da bemerkte Mariana zwei kleine Jagdflugzeuge, die wie emsige Bullterrier die kostbare Sondermaschine begleiteten und bewachten.
Als im Spätsommer die ersten deutschen Bomben auf England fielen und zugleich immer mehr Schiffe torpediert wurden, zum Teil auch solche in friedlicher Mission, erging es Mariana wie dem Reiter über den Bodensee: Im Nachhinein brach ihr noch der Angstschweiß aus. Zum Glück hatte sie kein Pferd, von dem sie tot hätte herunterfallen können.
Immerhin, so viel stand bald fest: England war für Mariana unerreichbar geworden. Ach, und auch Amerika. »Meine Weltkarriere! Zum Schluss muss ich froh sein, wenn noch jemand in Stockholm bei mir Gesangsunterricht nehmen will«, schrieb sie bitter an Pietro. Der schrieb zurück: »Nimm dieEisenbahn und komm nach Italien. Dort warten so viele Menschen auf dich, nicht nur dein vor Sehnsucht schon ganz kranker Ehemann. Und bring Massimo mit, damit er seine italienischen Großeltern kennenlernt.«
Mariana hatte tatsächlich einen Augenblick lang überlegt, ob sie nur noch in Schweden singen und alle anderen Engagements absagen sollte. Doch dann rührte sich ihr alter Kampfgeist. »Wenn mir jemand sagen könnte, der ganze Spuk dauert nur ein paar Jahre, dann würde ich vielleicht zurückstecken«, erklärte sie Birgit. »Aber soll ich warten, bis ich womöglich gar keine Stimme mehr habe? Ach was, ohne Singen kann ich nicht leben. Und ohne Pietro auch nicht.«
Ungefähr zwei Jahre lang fuhr Mariana, vom Krieg so gut wie unbehelligt, durch die Lande: Deutschland, Frankreich, Österreich, gelegentlich auch Holland, Belgien, Dänemark und Norwegen. Und natürlich Italien: Mailand, Rom, Neapel, das war ihr »magisches Dreieck«, so empfand sie es.
Massimo nahm sie wenn möglich mit und ließ ihn dann bei Silvana, Pietros Schwester. Die hatte selbst zwei Töchter und einen Sohn und dazu die Traumkinderfrau, eine Bäuerin aus Ischia, resolut, mit einem stolzen Sarazenengesicht und einem großen Herzen. Sie war seinerzeit als Amme für Silvanas erstes Kind ins Haus gekommen, in der Hand ein Kleiderbündel. Vor sich, in einem Tuch um den Leib gebunden, ihren eigenen winzigen Sohn. Ihr Aufenthalt war für einige Wochen geplant gewesen, allenfalls Monate, aber bald dachte niemand mehr an Trennung, so sehr hatte man
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