Im Schatten der Tosca
das sie das letzte Mal nachNew York getragen hatte. Aber dort hatte sie auch Hoffnung und Zuversicht verspürt. Hier jedoch herrschte nur Angst. Verstört blickte Mariana hinüber zu den schönen Schiffen, wie abweisend wirkten sie, streng und korrekt: Für Unbefugte Zutritt verboten! Nein, ohne die nötigen Papiere, Stempel und Bürgschaften würde hier keine Menschenseele an Bord gelangen.
Von Lissabon flog Mariana direkt nach Wien, seit Jahren sang sie dort große Rollen, im Augenblick war es die Leonore in Beethovens ›Fidelio‹. Keine andere Oper brachte so herzergreifend zum Ausdruck, was Menschen anderen Menschen zuleide tun können, keine andere Oper, so fand Mariana, passte besser in die augenblickliche Zeit: Ein bösartiger Diktator unterdrückt ein ganzes Volk und martert und tötet seine Gegner – aber gegen die Liebe und die Treue ist er machtlos, sie bringen Hoffnung in die Welt und geben den Menschen die Kraft, weiterzuleben, trotz Elend und Furcht.
Mariana fühlte sich in die Figur der Leonore hinein, so wie sie es noch niemals getan hatte und nicht unbedingt für gut erachtete: Es hatte keinen Sinn, sich im Getümmel der Emotionen vollkommen aufzugeben, zum einen hielt man das nicht lange aus, zum anderen riskierte man, den musikalischen Überblick zu verlieren. Wehe, wenn man aus einem solchen Rausch aufschreckte und plötzlich nicht mehr wusste, an welcher Stelle man sich gerade befand.
Doch in den großen Augenblicken dieser Oper gab es keine Vorsicht mehr, hier ging es nicht um psychologisch erklärbare Emotionen wie in dramatischen Liebesmomenten. Das war Ekstase, Hoffnungsraserei, hier litt und bebte die Menschheit und zeigte, beflügelt durch die Verzweiflung, einen Löwenmut – der das Wunder schließlich wahr machte, es herbeizwang. Es musste einfach kommen: sonst war die Welt nicht mehr auszuhalten.
Schon nach der Premiere hatte in einer großen Zeitung gestanden: »Mariana Pilovskaja besitzt ein Geheimnis, einGeheimnis, das einige wenige Sänger haben: Herz. Ein Ton, der aus dem Herzen kommt, geht zu Herzen, er beglückt den Zuhörer und vermag ihn tief zu erschüttern.« Doch bei dieser Aufführung jetzt fand noch etwas anderes statt: Das Ereignis in Lissabon hatte Mariana wie ein Medium die ganze Aufregung und Angst und Hoffnungslosigkeit der wartenden Flüchtlinge mitfühlen lassen. Nun floss diese Erfahrung unbewusst auch in ihre Leonore ein. Ihr Glühen befeuerte auch die anderen Musiker, es war ein Aufschrei, der zum Himmel loderte.
Minutenlang, so schien es, konnte das Publikum nicht applaudieren, es war ganz benommen, so wie es geschieht, wenn man ein wirkliches Wunder erlebt. Dann aber wankte das Haus unter dem Klatschen und Jubeln. Jedermann begriff, dass er hier nicht nur einer musikalischen Offenbarung beigewohnt hatte. Wem aber die Aussage, die dahinterstand, nicht gefiel, der konnte so tun, als hätte er das nicht bemerkt: »Eine hervorragende Idee, die Rolle einem Mezzosopran anzuvertrauen, er hat einfach mehr Schlagkraft«, erklärte ein ordenbehängter S A-Mann seinen verstörten Kameraden.
Auf dem Rückweg nach Stockholm legte Mariana einen Halt in Stuttgart ein. Elegant, mit akkurat geschnittenem pechschwarzen Pony wie immer, öffnete ihr Lilli. Sie war damals, nach dem ›Parsifal‹ nach Stockholm mitgekommen, aber bald darauf wieder heimgefahren, nachdem sie einige Kontakte mit Galerien und Sammlern geknüpft hatte. »Ach, machen Sie uns doch bitte einen Tee«, sagte sie streng zu Fräulein Paula, die verschrumpelt und vergrämt, ebenfalls wie immer, aus der Küche herüberäugte. An den Wänden hingen neue Bilder: »Lauter Maler, die nicht mehr malen dürfen und schon gar nicht ausstellen. Da hängen eben wir ein paar ihrer Bilder an die Wand. Hier, die sind von deinem Andreas«, erklärte Lilli vergnügt. Fräulein Paula kam herein und knallte fahrig die edle Silberkanne auf das Glastischchen. Dann zog sie ganz vorsichtig etwas aus ihrer Schürzentasche, eine kleineSchachtel samt Dokument, die zeigte sie voller Stolz Mariana: »Das habe ich vom Führer bekommen. Für treue Dienste. Immer bei der gleichen Herrschaft.« Mariana verschluckte sich an dem von Fräulein Paula selbstgebackenen Butterkeks, in den sie gerade gebissen hatte. »Seit 25 Jahren gehen wir uns auf die Nerven, dafür verdient man schon einen Orden, was, Fräulein Paula?«, kicherte Lilli. Als Mariana schon unter der Tür stand, umarmte Lilli sie plötzlich: »Solange Rainer sich nicht in
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