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Im Schatten der Vergeltung

Im Schatten der Vergeltung

Titel: Im Schatten der Vergeltung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Michéle
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die Postzustellung schon im Sommer mehr als unzuverlässig, brach sie in den Wintermonaten völlig zusammen. Trotzdem war es Maureen unerklärlich, warum keine Zeile aus Cornwall bisher eingetroffen war. Sie war überzeugt, Frederica schrieb ihr regelmäßig. Ein einziger Brief müsste doch durchgekommen sein! Lauras Schreiben hatte sie ja schließlich auch erreicht.
    Mit dem halbvollen Glas in der Hand trat sie vor den großen venezianischen Spiegel, der über dem Kamin hing. Die vielen durchwachten Nächte der letzten Wochen hatten Spuren hinterlassen. Maureens Gesicht war schmal geworden, die Wangen eingefallen und um ihre Augen lagen dunkle Schatten. Die schlimmen Ereignisse der Vergangenheit hatten nicht nur Lauras, sondern auch ihr eigenes Leben beeinflusst. Ihre Kindheit und Jugend waren von der Kälte und Lieblosigkeit der Mutter geprägt gewesen. Nachdem sie sich endlich einen festen Platz auf der Welt erkämpft hatte, drohte das gemeine Verbrechen ihre Ehe zu zerstören. Ein eisiger Schreck durchfuhr Maureen. Durch die Lektüre zahlreicher Zeitungen und Bücher wusste Maureen, dass Philipp sie jederzeit verstoßen und sich sogar von ihr scheiden lassen konnte. Obwohl sie sich nichts hatte zuschulden kommen lassen, würde jeder Richter in England auf Philipps Seite stehen. Die Fortführung der Ehe mit einer Frau von solch zweifelhafter Herkunft war nicht mit seiner Ehre zu vereinbaren. In diesem Fall würde Maureen auch den Anspruch auf ihre Tochter verlieren. Philipp verfügte über genügend Einfluss, jeglichen Kontakt zwischen ihr und Frederica zu verhindern. Maureen bezweifelte, dass Philipp derart hartherzig war, um sich zu trennen, denn das hieße auch für ihn, die ganze furchtbare Geschichte öffentlich zu machen. Gerade das wollte er ja verhindern, außerdem galt es, Frederica zu schützen. Niemals durfte das Mädchen etwas von dem Verbrechen, das an Laura verübt worden war, erfahren. Wenn Laura gestorben war, wussten nur sie und Philipp davon. Wenn er sie lieben würde, müsste es ihm doch gleichgültig sein, dass sie das Produkt einer Gewalttat war. Maureens Finger umklammerten so heftig den Kaminsims, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
    »Ich hasse euch!«, rief sie. »Ich hasse euch für das, was ihr meiner Mutter angetan habt.«
    Vor ihrem geistigen Auge tauchten drei Männer auf. Groß, stark und kräftig. Sie trugen rote Uniformen, aber sie besaßen kein Gesicht. Immer wieder hatte Laura vergeblich versucht, sich an Einzelheiten zu erinnern. Die Gesichter ihrer Peiniger waren ebenso wie ihre Namen für immer aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Maureen wusste, ihre stetigen Fragen waren eine Qual für Laura, aber sie musste einfach so viel wie möglich in Erfahrung bringen, auch wenn es noch so schmerzhaft war.
    Mit einem lauten Schrei schmetterte Maureen ihr Glas in den Spiegel, und er zersprang in tausend Stücke. Dann sackte sie auf dem Teppich zusammen und schluchzte. Die Tränen rannen ihr die Wangen hinab. Endlich, zum ersten Mal, seit Laura ihre schreckliche Geschichte erzählt hatte, konnte Maureen weinen. Sie konnte gar nicht mehr aufhören. Sie weinte um die verlorene Jugend ihrer Mutter, sie betrauerte ihr eigenes Schicksal und ließ ihrer Enttäuschung über Philipps Verhalten freien Lauf. Der eiserne Panzer, der sich seit dem Abend der Enthüllung um ihr Herz gelegt hatte, bekam Risse und begann zu bröckeln. Maureen weinte aber nicht nur aus Verzweiflung, sondern auch aus Wut auf die drei unbekannten Männer, die mit ihrer grausamen Tat gleich mehrere Familien zerstört hatten.
    »Ich wollte mich rächen«, klangen Lauras Worte in ihren Ohren.
    Dafür war es zu spät. Laura würde sterben, sie hatte keine Kraft mehr, das geschehene Unrecht zu vergelten.
    Aber sie, Maureen, war noch jung und gesund. In diesem Moment wusste sie was sie zu tun hatte: Sie würde die Sache nicht auf sich beruhen lassen und sie vergessen. Das war sie ihrer Mutter schuldig. Wie sie überhaupt jemals erfahren sollte, wer für das Unrecht verantwortlich war, lag noch im Dunkeln, aber sie würde einen Weg finden, um die Namen der Offiziere zu erfahren und sie zur Rechenschaft zu ziehen.
    Mit dem Taschentuch trocknete Maureen ihre Tränen, stand auf, strich ihren Rock glatt und fuhr sich übers Haar. Sie hörte, wie Jenny das Haus betrat. Sie straffte die Schultern, atmete tief durch, dann ging sie in die Halle, wo das Mädchen gerade ihren schneebedeckten Mantel ablegte.
    »Im Salon ist ein Missgeschick

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