Im Schatten der Vergeltung
passiert. Bitte beseitige die Scherben. In einer halben Stunde erwarte ich das Frühstück im Zimmer von Mrs Mowat.« Ihre Stimme klang kühl und beherrscht, hoch erhobenen Hauptes stieg sie an Jenny vorbei die Treppe nach oben. Es war ihr gleichgültig, was Jenny denken würde, wenn sie den zerbrochenen Spiegel sah. Von diesem Moment an würde sie sich nie mehr darum kümmern, was andere Menschen von ihr dachten. Zu lange hatte sie ihr Leben nach den Wünschen und Bedürfnissen anderer ausgerichtet. Es war an der Zeit, ihren eigenen Weg zu gehen.
E ine Woche später hustete Laura hellrotes Blut. Von starken Schmerzen gepeinigt wälzte sie sich im Bett und die Momente, in denen sie Maureen bewusst wahrnahm, wurden immer seltener. Die Medizin des Apothekers verschaffte Laura nur noch kurzzeitig Erleichterung. Obwohl Maureen sich wie zerschlagen fühlte, war es ihr nicht vergönnt, selbst für einige Stunden Ruhe zu finden. Nach einer weiteren qualvollen Nacht, als Laura endlich in einen leichten Schlummer gefallen war, wusch Maureen ihr Gesicht mit kaltem Wasser und bereitete sich eine Tasse Tee. Sie setzte sich an den Kamin im Salon und versuchte, sich auf die Tageszeitung, die Jenny jeden Morgen mitbrachte, zu konzentrieren. Ihre Gedanken schweiften jedoch ab. Der Zustand ihrer Mutter wurde immer besorgniserregender. Vielleicht sollte sie doch einmal diese widerwärtige Schneckenrezeptur von Mr. Selby versuchen?
Ein nachhaltiges Klopfen an der Vordertür riss Maureen aus ihren Gedanken. Wer besuchte sie zu dieser Uhrzeit? Bekannte oder gar Freunde hatte sie keine in der Stadt. Sie legte die Zeitung auf das Beistelltischchen und trat in die Halle hinaus. Da Jenny in den oberen Stockwerken beschäftigt war, öffnete sie selbst die Tür.
» Sie !«
Im strömenden Regen stand Alan McLaud. Das kleine Vordach schützte ihn nur unzureichend vor den Wassermassen, die seit Tagen vom Himmel prasselten und den Schnee hatte tauen lassen. McLaud wartete gar nicht erst darauf, von Maureen hereingebeten zu werden, sondern drängte sich an ihr vorbei in die kleine Halle.
»Guten Morgen, Maureen. Scheußliches Wetter, nicht wahr?«
»Woher wissen Sie, wo ich wohne?«, fragte sie überrascht und registrierte erst dann, dass er ungebeten eingetreten war.
Alan zuckte leicht mit den Schultern und schenkte ihr ein beinahe unwiderstehliches Lächeln.
»Edinburgh ist zwar die größte Stadt in Schottland, aber nicht so groß, dass man nicht jede Adresse herausfinden könnte.« Er sah sich neugierig in der Halle um. »Hübsches Haus hast du. Geht’s hier in den Salon?«
Er ließ die sprachlose Maureen stehen, durchmaß mit sicheren Schritten die Halle und öffnete die Tür zum Salon. Am Kamin rieb sie sich die kalten, roten Hände über dem Feuer.
»Was in aller Welt wollen Sie hier?«
Langsam fand Maureen ihre Fassung wieder. Er erwartete hoffentlich nicht, dass sie ihm etwas anbot, schließlich hatte sie ihn nicht eingeladen. McLaud ließ seinen Blick durch den gemütlichen Raum schweifen, bis er an der Titelseite der Zeitung hängen blieb.
» Du liest die Edinburgh Gazette?« Hätte McLaud soeben festgestellt, Maureen würde eine Whisky-Destillerie mitten im Salon betreiben, hätte er nicht weniger überrascht reagiert. Die Edinburgh Gazette beschäftigte sich vorrangig mit politischen und wirtschaftlichen Themen, die für die meisten Frauen von nur geringem Interesse waren.
»Ich lese die Leitartikel und die ausländischen Nachrichten und ich verfolge die Kurse und Weltmarktpreise.« Maureen zog spöttisch eine Augenbraue hoch. »Kurz gesagt: Ich informiere mich über alles, was den Männer ebenfalls wissenswert erscheint.«
McLaud pfiff anerkennend.
»Ich wusste gleich, dass du eine außergewöhnliche Frau bist. Es hätte mich auch gewundert, wenn du ausschließlich die Verlobungs- und Heiratsanzeigen studieren würdest.«
Abwehrend verschränkte Maureen die Arme vor der Brust.
»Dann lagen Sie ja richtig mit Ihrer Einschätzung, aber ich denke nicht, dass Sie gekommen sind, um mit mir über die Bildung der Frauen zu sprechen, oder?«
»Warum nicht? Wie ich dich einschätze, stimmst du den Lehren, die der Apostel Paulus im zweiten Kapitel seiner ersten Epistel an Timotheus erteilt, nicht zu.«
Maureen runzelte die Stirn, dann erinnerte sie sich.
»Sie meinen wohl den Vers: ‚Ein Weib lerne in der Stille mit aller Untertänigkeit, und man gestatte ihr nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie des Mannes Herr sei;
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