Im Schatten der Vergeltung
Geld dagelassen, so dass ihr Lebensunterhalt gesichert war, Maureen hatte jedoch keinen Kontakt zu anderen Menschen außer dem Personal und fühlte sich oft sehr einsam.
»Woran denkst du, Maureen?«
»Wie bitte?«
Sie schreckte auf und bemerkte gar nicht, wie vertraulich Alan plötzlich mit ihr sprach. Er strich zart über ihre rechte Hand, die auf der Tischplatte lag. Die Berührung war nicht mehr als ein Hauch, wie ein Blatt, das langsam zu Boden fiel.
»Was bedrückt dich? Manchmal hilft es, wenn man darüber spricht. Ich bin ein guter Zuhörer.«
Maureen schüttelte den Kopf.
»Es gibt Dinge, die Fremde nichts angehen.«
»Fremde? Wir kennen uns doch schon ein wenig. Aber wie du willst ... Mein Angebot steht jedenfalls. Ich habe Geduld.« Er lächelte.
Maureen nickte stumm. Sie wusste nicht, was mit ihr geschah. Da saß sie mit einem Fremden, von dem sie nicht mehr als seinen Namen wusste, in einem Kaffeehaus und trank Tee. Alan McLaud war ohne Zweifel ein attraktiver Mann. Er verstand es zu flirten, und sie genoss es. Schlagartig wurde ihr bewusst, in welch unmögliche Situation sie sich gebracht hatte. Schnell stand sie auf und sagte: »Danke für den Tee ... Alan.« Stockend nannte sie ihn beim Vornamen. »Ich muss jetzt gehen. Meine Mutter wartet auf ihre Medizin. Wohin, bitte, soll ich die ausstehende Summe schicken lassen?«
Alan seufzte derart theatralisch, dass Maureen unwillkürlich lächeln musste.
»Sieh es als gute Tat meinerseits, Maureen. Ich kenne deine Mutter zwar nicht, es freut mich aber zu wissen, dass ich einer Dame eine angenehme Nacht bescheren kann, auch wenn ich das normalerweise auf eine andere Art und Weise tue.«
Ob dieser Doppeldeutigkeit gefror Maureen das Lächeln, ihre Augen verengten sich, als sie kühl sagte: »Ich pflege meine Schulden stets zu begleichen, aber ich zwinge niemandem etwas auf, was er nicht möchte.« Sie griff nach ihrem Umhang. Er war in dem Kaffeehaus getrocknet, und Maureen hüllte sich in den derben Stoff. »Leben Sie wohl, Mr. McLaud.«
»Wir sehen uns doch wieder?«
Sie zögerte mit der Antwort und hasste sich beinahe dafür.
»Besser nicht. Trotzdem vielen Dank für Ihre Hilfe.«
Z um ersten Mal hatte Maureen wirklich Angst um ihre Mutter. So schlimm wie dieser Anfall war keiner zuvor gewesen. Seit einer Stunde hustete und würgte Laura, rang japsend nach Luft, und ihre Lippen waren blau. Draußen tobte ein heftiger Schneesturm, und die Frauen waren allein im Haus. Jenny, das Hausmädchen, war bereits vor Stunden nach Hause gegangen, und die Köchin hatte heute ihren freien Tag. Maureen wusste, dass sie einen Arzt holen müsste, sie konnte Laura aber unmöglich allein lassen. Was, wenn sie starb, solange sie fort war?
»Noch nicht, lieber Gott!«, betete sie im Stillen. »Es ist noch zu früh, ich habe sie doch gerade erst wieder gefunden.«
Obwohl Maureen sich nach Frederica und auch nach Philipp sehnte und sie am liebsten unverzüglich nach Hause zurückgekehrt wäre, war die Vorstellung, die Mutter jetzt zu verlieren, schrecklich.
In dieser Nacht wurden ihre Gebete noch einmal erhört. Die Morgendämmerung sickerte bereits durchs Fenster, als Laura endlich in einen beschwerdefreien Schlaf fiel. Maureen deckte sie sorgsam zu und küsste die heiße, trockene Stirn, dann ging sie in den Salon und entfachte das Feuer im Kamin. Mit Jenny konnte sie frühestens in einer Stunde rechnen. Sie verspürte keine Müdigkeit, nur eine tiefe innere Leere. Beim Anblick der Whiskyflasche auf dem Sideboard zögerte sie zunächst, schenkte sich dann aber doch ein Glas ein und nahm einen großen Schluck. Der Alkohol brannte in ihrer Kehle und rann warm in ihre Glieder. Sie atmete tief durch. Ich muss den Tatsachen ins Auge blicken, dachte sie. Laura wird sterben, es kann jeden Tag geschehen.
Vier Monate war sie jetzt schon von ihrer Familie getrennt. Mit einem Anflug von Wehmut dachte Maureen daran, wie in Cornwall jetzt die ersten Anzeichen des Frühlings aus der Erde brechen würde. In dem milden Klima kam er früh, denn die Blumen hatten jetzt weder Eis noch Schnee mehr zu befürchten. Was Frederica wohl gerade machte? Ob sie sich noch mit George Linnley traf? Was hatte Lady Esther wohl dazu gesagt, dass Maureen in Schottland geblieben war? Was hatte Philipp ihr und den anderen Nachbarn über ihre Reise nach Schottland erzählt und wie erklärt, dass Maureen nicht zurückgekehrt war? Jede Woche schrieb sie einen ausführlichen Brief nach Hause. War
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