Im Schatten des Dämons
Wohnung umfaßte fünf Zimmer, wie
Gaby wußte, und sie gehörte Julias Eltern, vermögenden Leuten, die aber nach
Lugano gezogen waren — wegen des milden Klimas — und die Wohnung ihrer Tochter
überließen. Julia studierte Musik und Malerei an der hiesigen Uni.
Gitarreunterricht erteilte die 24jährige nicht wegen des Honorars, sondern weil
es ihr Spaß machte. Sie nahm nur drei Schüler an. Wer nicht übte, brauchte gar
nicht wiederzukommen.
Gaby frottierte ihr Haar, kämmte sich
und ging in den Wohnraum zurück.
Julia hatte ein Buch über Hunderassen
aufgeschlagen.
„Ich schwanke“, meinte sie. „Für wen soll
ich mich entscheiden: für einen Zwergdackel, einen Mini-Pudel, einen Malteser,
Pekinesen, Affenpinscher oder Chihuahua?“
„Da ich alle mag, darfst du mich nicht
fragen.“
Julia hatte langes, dunkles Haar, das
in der Mitte gescheitelt war. Die rehbraunen Augen schienen immer zu lächeln.
„Musikalisch müßte er sein.“
„Dackel lieben Volksmusik“, meinte
Gaby. „Pekinesen mögen Opern. Chinesische — vor allem.“
Das amüsierte Julia. Sie sagte: „Ich
habe dir Eistee eingegossen. Trink, bevor er brühwarm wird.“
Gaby setzte sich auf die Couch.
Im selben Moment hörten sie einen
Schrei.
Er wurde gedämpft durch Türen und
Wände.
Aber es war unzweifelhaft ein Schrei.
Gaby sprang auf, kaum daß ihre
Sitzfläche die Couch berührt hatte.
Julia blickte entgeistert und drehte
lauschend das Gesicht zur Diele.
„Da hat eine Frau geschrien“, sagte
Gaby. „Auf dem Flur.“
Julia stand auf. „Nicht im Flur. Das
war drüben bei Frau Demschlag.“
Johanna Demschlag, Julias Nachbarin,
war eine wohlhabende Witwe von etwa 65 Jahren.
Gaby kannte sie vom Sehen.
„Die Wohnung gegenüber?“
Julia nickte.
Beide liefen in die Diele.
„Außer mir und ihr“, sagte Julia
aufgeregt, „ist das Haus nahezu leer. Ferienzeit. Alle sind verreist. Dr.
Fleißner mit Frau, die in der fünften wohnen, und die Wrennhubers. Du glaubst
nicht, wie allein man ist — in so einem Wohnsilo.“
Gaby wollte die Tür öffnen, wurde aber
von Julia zurückgehalten.
„Erst mal sehen.“
Julia spähte durch den Spion.
Sofort prallte sie zurück.
Vor Schreck weiteten sich die Augen,
und die ganze Person erstarrte.
Gaby, die TKKG-abgehärtet und sowieso
keine Angstmaus ist, trat sofort an den Spion.
Was sie durch das Guckloch sah, war
allerdings furchteinflößend.
Drüben hatte sich die Tür geöffnet —
genau gegenüber.
Ein Mann trat auf den Flur.
Es war ein großer Kerl in sandfarbener
Windjacke — und vom Kopf nichts zu sehen.
Eine Einkaufstüte aus Plastik diente
als Maske.
Zwei Sehschlitze hatte der Kerl
hineingerissen. Und die richteten sich jetzt auf Julias Tür.
Sieht der mich? schoß es Gaby durch den
Kopf. Nein, unmöglich. Der Spion ist so verspiegelt, daß man nicht reingucken
kann — von außen.
Der Maskierte machte einen Schritt auf
sie zu.
Beinahe wäre auch Gaby zurückgezuckt.
Doch jetzt wandte er sich ab, der Kerl,
und rannte den Flur entlang zum Lift, zur Treppe. Die Tür ließ er offen.
Nahm er den Lift?
Gaby lauschte.
Nein, die Treppe.
„Julia, der haut ab. Über die Treppe.
Ruf den Hausmeister an. Der wohnt doch im Parterre. Wenn der...“
Die Studentin hatte den Schreck
überwunden und riß den Hörer ans Ohr.
„Dotz“, meldete sich der Hausmeister.
„Ein Verbrecher“, rief Julia, „war bei
Frau Demschlag in der Wohnung. Wir hörten einen Schrei. Jetzt kommt er die
Treppe runter. Halten Sie ihn auf! Ich rufe die Polizei an.“
„Ist mir ein Vergnügen“, war die
Antwort.
Die Verbindung wurde unterbrochen.
„Dotz ist Herkules“, erklärte Julia
atemlos. „Und außerdem Sportschütze. Mit seinem Gewehr kann er ihn aufhalten.
Der Maskierte sitzt in der Falle.“
„Wir müssen nach deiner Nachbarin
sehen.“
Sie öffneten die Tür, spähten auf den
Flur, traten dann über die Schwelle.
Julia ließ die Tür offen.
Gaby blickte in Johanna Demschlags
Diele.
Ein leichter Sommermantel hing in der
Garderobe. Das schattige Halbdunkel duftete nach schwerem Parfüm.
„Frau Demschlag?“
Keine Antwort.
Gaby hätte sich auch allein in die
Wohnung getraut, aber es war beruhigender, daß Julia mitkam.
Im Schlafzimmer fanden sie die Witwe.
Sie lag vor dem Bett auf dem Teppich,
atmete, war aber bewußtlos.
Julia schrie auf. „Mein Gott! Ist
sie...“
„Sie lebt. Wir brauchen einen Arzt. Ruf
an, Julia! Auch die Polizei! Dotz kann den
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