Im Schatten des Drachen
sie mit Variationen umspielte. Seine Finger flitzten kreuz und quer über die Tastatur, und schließlich trieb eine Kadenz sie so weit hinauf, dass er um Johannes’ Körper herumgreifen musste, um auf der anderen Seite weiterzuspielen.
Mit einem Mal fiel es Johannes unglaublich schwer, die Melodie zu halten. Einen Takt lang genoss er die unerwartete Umarmung, schmiegte seinen Körper in die fremde Wärme, verlor sich in der prickelnden Nähe zwischen ihnen. Marc warf ihm einen raschen Blick durch eine seiner dunklen Locken hindurch zu, um ihn mit einem leichten Kopfnicken im Tempo zu halten. Der milde Schein des Kerzenlichts in den fast schwarz schimmernden Augen verbrannte Johannes beinahe die Sinne, und erst als Marcs Finger in einer weiteren Kadenz auf der Klaviatur zurückliefen und sich ihre Berührung wieder löste, schaffte Johannes es, das Stück und sich selbst wieder richtig einzutakten.
Er räusperte sich.
„Also, Klavier spielen kann ich auch, aber ich mag die Geige lieber. Danke trotzdem für das Kompliment über meine Hände. Was ist mit dir, spielst du ein Instrument?“ Er zögerte, blinzelte einen Moment wie abwesend in die Ferne und ergänzte: „Ich könnte mir für dich vielleicht Saxophon vorstellen?!“
Ich prustete los und schüttelte dann energisch den Kopf. „Meine Mutter hätte mich gleich nach den ersten Tönen umgebracht!“
Wir lachten beide, ungezwungen, ehrlich aus unserem Innersten heraus. Das tat gut, besser als jeder Schnaps oder Zigarillo.
Schließlich beantwortete ich seine Frage wahrheitsgemäß.
„Nein, für ein Instrument hat es leider nie gereicht, weder die Zeit noch die Begeisterung. Aber wenn ich die Chance gehabt hätte, hätte ich vielleicht Cello gelernt.“
„Cello? Das ist ja interessant. Wie kommst du ausgerechnet darauf?“
Seine blauen Augen verfolgten jede Bewegung meiner Lippen, was mich zunächst irritierte. Unsere Unterhaltung verlief auf Englisch, wobei er mit meinem doch etwas holprigen, gestelzten Redefluss mit deutscher Klangfärbung genauso zu kämpfen hatte, wie ich mit seinem breiten, irischen Akzent, der die Vokale plättete wie ein Bügeleisen die Wäsche. Dafür rollten die R’s flott und fröhlich wie kleine Kieselsteine über seine Zunge.
„Ich weiß nicht, mich fasziniert dieser weiche, warme Ton. Ein Cello klingt für mich nach Wald, nach einem See, dessen Ränder schon gefroren sind, während aus seiner Mitte noch der Dampf des Sommers steigt ... Es klingt wie ein Guinness.“
Verlegen hob ich mein Glas an die Lippen. Ich hatte so etwas noch nie gesagt; tatsächlich war mir das alles eben zur Sekunde eingefallen, da ich auf seine Hände geschaut und mich an ihren Tanz über die Saiten erinnert hatte.
„Du beschreibst das sehr schön“, sagte er in die plötzlich entstandene Stille zwischen uns hinein, „sehr intensiv. Was spürst du bei einer Geige?“
Ich konzentrierte mich auf den schwarzen Schimmer in meinem Glas.
„Eine Geige ist wie eine Möwe, die über das Meer segelt. Die Wellen glitzern wie Silber, während ein Mondstrahl durch die Wolken am Nachthimmel bricht ... Ach, ich komme mir ziemlich albern vor, so etwas zu sagen“, brach ich unwirsch ab und warf einen ungeduldigen Blick zu ihm hinüber.
Er hatte eine Hand unter sein Kinn gestützt und sah mich wie verträumt an, blinzelte jetzt ob meines jähen Abbruchs und erwiderte mit einem leisen Kopfschütteln: „Du musst dich nicht schämen. Ich höre dir gerne zu. Du sprichst sehr gut.“
„Ach was, mein Englisch ist nicht besonders ergiebig, du brauchst mir keine falschen Komplimente machen.“
„Das meine ich nicht.“
Seine Hand glitt unter seinem Kinn hervor und legte sich nur wenige Millimeter neben meine auf den Tresen. Erstaunt nahm ich zur Kenntnis, dass da kein Impuls in mir war, meine Hand wegzuziehen. Seine unvermittelte Wärme ließ sich die Härchen auf meinem Handrücken aufstellen.
„Du hast eine schöne Stimme“, fuhr er fort. „Ich mag sie. Die Stimme ist sehr wichtig, weißt du. Sie kann die Seele halten, führen, ihr folgen - und sie vielleicht auch zurückholen.“
Ich spürte, wie sich meine Augenbrauen zusammenzogen ob dieser seltsamen Worte. Hatte ich ihn nicht richtig verstanden, mich die Doppeldeutigkeit mancher englischer Worte in die Irre geführt?
Im nächsten Moment saß ihm tatsächlich schon wieder der Schalk in den eben noch so nachdenklich blickenden Augen. „Im übrigen würde ich dir niemals falsche
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