Im Schatten des Drachen
wenn sie blond, dunkelhäutig oder schwul waren?
Wütend starrte er an Marc vorbei auf die Wand gegenüber, an der sein Studienplan hing. Er liebte sein Studium, und er betrieb es mit all der Leidenschaft, die er schon immer für die Mathematik empfand, seit er entdeckt hatte, dass eins plus ein zwei war. Warum sollte es ihm verwehrt sein, dieses große Geheimnis an ebenso begeisterte, junge Geister weiterzugeben, wie er einst einer war, nur weil er sich nachts lieber einen knackigen Männerhintern als vollbusige Frauenkörper vorstellte?!
Nach einigen Minuten verbissenen Schweigens seufzte Marc schließlich schicksalsergeben und murmelte: „Tut mir leid, Jo, ich wollte dich nicht verletzen. Aber die Dinge sind halt nun mal so, wie sie sind, ich hatte mir nur meine Gedanken gemacht. Ach, da fällt mir ein, sieh mal, ich hab’ hier was ..., warte ...“ Umständlich fummelte er einen zusammengefalteten Zeitungsartikel aus der Hosentasche, „hier, ehm, irgendwas mit Medizin, dass Mathematiker die Operationsergebnisse im Voraus berechnen oder so ... lies mal.“
Obgleich Johannes es durchaus schmeichelhaft fand, dass Marc sich so um seine Zukunft sorgte, las er den Artikel zunächst nur widerwillig. Tatsächlich drehte der sich um ein neues Forschungsprojekt, in dem es darum ging, mit Hilfe computerisierter Animationen die wahrscheinlichsten Ergebnisse gesichtschirurgischer Eingriffe vorhersagen und damit die Gefahr und Quote von Kunstfehlern minimieren zu können. Eine Heidenarbeit für Mathematiker und Programmierer, und das Projekt steckte noch in den Kinderschuhen. Doch angesichts des rasanten technischen Fortschritts konnte an den Erfolgsaussichten dieses Unternehmens eigentlich kein Zweifel bestehen. Und es bot die Chance, neben der aktuell praktischen Anwendung seines theoretischen Wissens auch noch einen Doktor-, wenn nicht sogar Professorentitel zu erwerben.
Wage nickte er Marc zu. „Klingt gar nicht so schlecht ... müsste man sich mal genauer informieren. Kann ich das behalten?“
„Klar - und das andere auch.“
Johannes stutzte. Erst jetzt bemerkte er, dass er noch einen zweiten Zeitungsausschnitt in der Hand hielt, der mit dem ersten offenbart nichts zu tun hatte. Er brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass es sich dabei um eine Werbeanzeige einer Modelagentur handelte. Eine, die ausschließlich Männer suchte. Für Werbefotos und Fotolovestories, wie er las. Er warf seinem Gegenüber einen erstaunten Blick zu. „Und was soll das hier?“
Marc grinste breit. „Ich finde, da solltest du dich auch mal bewerben! Du hast das Zeug dazu, davon bin ich fest überzeugt. Ich meine“, er stockte einen Augenblick und fuhr sich mit der Hand unsicher durch die Locken; eine Geste, die Johannes stets sehr aufreizend fand, „du siehst nicht schlecht aus, hast einen schönen Körper, bist gesund ...“
„Moment mal“, unterbrach ihn Johannes verlegen lachend, jetzt schon wieder ein bisschen besänftigt, aber auch sehr irritiert darüber, wohin dieser neuerliche Vorstoß seines Freundes wohl führen sollte, „woher willst du wissen, ob ich einen schönen Körper habe?“
Hätte er jetzt gerne gehört, dass Marc ihn heimlich beobachtet, sich vielleicht mehr mit ihm vorgestellt hatte? Instinktiv zog Johannes die innere Handbremse an, denn Marc zuckte nur mit den Schultern, ließ die Frage ansonsten unbeantwortet. Dann fuhr er fort: „Ich denke, du erfüllst die Kriterien für ein Model locker, zumindest, was deine Größe betrifft. Wie groß bist du?“
„Einsdreiundachtzig oder so, ich weiß nicht genau. Aber hör mal, da geht es doch um mehr als nur die Körpergröße, meinst du nicht?“
Johannes war sich immer noch nicht im Klaren darüber, ob er Marcs Idee für einen Scherz halten sollte.
Marc zog ein Maßband aus der Hosentasche. „Naja, ein bisschen schauspielern musst du auch können, aber das dürfte ja kein Problem sein.“
Nein, das war es ganz gewiss nicht, das tat er ja schon sein ganzes Leben lang.
„Zieh mal die Schuhe und dein T-Shirt aus.“
Jetzt ließ Johannes den Zeitungsausschnitt endgültig sinken und starrte Marc entgeistert an. Meinte er das jetzt ernst?
Der andere schaute ungeniert zurück. „Na mach schon! Ich lache auch nicht!“
Nach einigem Zögern wischte Johannes schließlich seine Bedenken beiseite, erhob sich und griff nach dem Saum seines T-Shirts. Entschlossen zog er es sich über den Kopf, streifte die Schuhe ab und stand dann nur noch in
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