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Im Schatten des Drachen

Im Schatten des Drachen

Titel: Im Schatten des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. Leuning
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Begriffe viel zu rasch vonstatten, und dann saß ich mit Paul allein am Tresen.
    „Deine Leute sind wirklich nett“, bemerkte ich, um die peinliche Stille zwischen uns zu durchbrechen.
    „Ich weiß“, antwortete er und nippte gelassen an seinem Bier.
    Sein Blick ließ mich nicht los, ermunterte mich geradezu, die nächste Frage auszusprechen, die mir auf der Zunge brannte. „Ich nehme an, du hast ihnen von uns erzählt? Ich meine, dass du und ich ...“ Ich brach entmutigt ab und sah ihn hilfesuchend an.
    Er vollendete mit tief gurrender Stimme meinen Satz. „Du meinst, dass wir beide schwul und uns sympathisch sind, und dass wir schon Sex miteinander hatten? Nur am Telefon, versteht sich.“
    Seine Augen blinzelten mich so unschuldig an, dass ich laut auflachen musste. Die Spannung zwischen uns zerplatzte wie die kleinen Schaumbläschen auf Pauls Guinness.
    Mit ernsterer Miene fuhr er fort: „Natürlich wissen Peter und Tom von mir. Das bleibt kaum geheim, wenn sie ständig von irgendwelchen Frauen schwärmen, während ich mir im Park fast den Kopf verdrehe nach so einem supercoolen Typen auf der Bank, der mich im Vorbeigehen mit seinem Blick fast auszieht.“
    Wir grinsten beide süffisant in der Erinnerung an unsere erste Begegnung. Er stieß sein Glas sacht gegen meines und hob es halb an die Lippen. „Ich mache Musik mit ihnen, Matty, und dabei gibt es keine Geheimnisse. Wenn man gemeinsam musiziert, richtig und aus dem Herzen heraus, dann offenbart man dabei sein Innerstes. Seinen Geist, seine Seele, Ängste, Fantasien ... Sie kennen meine Angelegenheit genauso, wie ich über ihre Vorlieben Bescheid weiß.“
    Er trank sein Glas aus, sich durchaus darüber bewusst, dass ich mehr als fasziniert beobachtete, wie sein kleiner Adamsapfel bei jedem Schluck verführerisch die Kehle auf- und abwippte. Wie offen er mit all dem umging, was mich vor Verlegenheit stottern ließ! Hatte er mehr Erfahrung als ich? Vielleicht einen Freund? Was mochte er, worauf fuhr er ab? Ich hätte es gerne gewusst, aber die Angst vor den nächsten Minuten lähmte meine Zunge, und Paul deutete das als Zeichen meiner Müdigkeit.
    „Lass uns gehen“, schlug er vor und winkte dem Wirt.
    „Ich mach das schon, du hast mich ja letztes Mal eingeladen“, wehrte ich hastig sein Angebot ab, und als er aufstand, um sich anzuziehen. „Bringst du mir meine Jacke mit?“ Mit jedem Wort stahl ich mir noch ein paar Sekunden, zögerte das Unvermeidliche hinaus, duckte mich vor dem Schwert, das über mir hin- und herpendelte.
    Schließlich blieb mir nichts anderes mehr übrig, als mich zu erheben und loszugehen. Der Schmerz fuhr wie ein Dolch durch mein Bein, als ich es belastete. Eisern biss ich die Zähne zusammen, um nicht erschrocken aufzuschreien, und befahl mir dann selbst, langsam zu gehen. Weglaufen konnte ich sowieso nicht.
    Paul war schon zur Tür gegangen und hielt sie auf. Er wandte sich um, und jetzt begegneten sich unsere Blicke. Während ich seinen Gesichtsausdruck beobachtete, verschloss ich langsam mein Herz, denn ich wusste genau, was ich jetzt in seinen blauen Augen sehen würde: Erstaunen, Verblüffung, Faszination, die in Abscheu umschlug, Mitleid, das vielleicht nicht einmal geheuchelt war, und dann jenes panische Flackern wie bei einem gehetzten Tier, wenn es den letzten Fluchtweg suchte. Das Schwert schien zuzustechen, doch ich wandte mich nicht ab; ich wehrte mich nicht, denn das hätte die Wunde noch tiefer gerissen. Stattdessen ging ich langsam mit hinkenden Schritten auf ihn zu, mein linkes Bein etwas hinter mir herziehend, mich hin und wieder auf einer Stuhllehne abstützend, gleichmäßig, aber wie in Zeitlupe.
    Paul wartete.
    Er rührte sich nicht. Er blinzelte nicht. Er reagierte überhaupt nicht.
    Er schaute nur.
    Sein helles Gesicht hob sich deutlich vor der dunklen Tür ab, seine roten Locken strahlten wie ein Kranz darum herum. An diesen hellen Punkt in der Dunkelheit klammerte sich mein Blick, und mit jedem Schritt hoffte, nein flehte ich, dass er nicht vor mir zurückweichen und besser größer statt kleiner werden würde.
    Endlich standen wir uns gegenüber. Vor Anstrengung zitterte jeder Muskel in meinem Körper, und meine Lungen schrieen nach Sauerstoff, denn ich wagte schon seit unendlich vielen Sekunden nicht mehr zu atmen. Bei ihm angekommen wusste ich nicht, was ich jetzt tun sollte. So weit hatte ich es noch nie geschafft. Noch nie hatte ich jemanden erreicht; bisher war entweder ich oder der andere

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